Nach einem Mord in einer Dortmunder Hochhaussiedlung dauert es gerade mal zwei Tage, bis das absolute Chaos ausbricht. Rechte und linke Gruppen stehen sich gegenüber, der Mob marschiert, Brandbomben fliegen – und Kommissar Faber (Jörg Hartmann) & Kollegin Bönisch (Anna Schudt) befinden sich mittendrin: Er geht zu Boden, sie bleibt standhaft, im Blick tiefes Entsetzen. Mit einem ersten Brand hat 48 Stunden zuvor alles begonnen. „Ein Kellerbrand unterm Dach???“, wird in den Sozialen Medien gewitzelt. Doch das Ganze ist wenig spaßig: Eine schwangere junge Frau ist verbrannt, sie ist erschlagen worden, und es gibt Hinweise auf eine versuchte Vergewaltigung. Rosa Herzog (Stefanie Reinsperger) inspiziert den Tatort; Pawlak (Rick Okon) befragt schon mal einige Bewohner. Erste Spuren führen zum Hausmeister (Sven Gey), den das Opfer angezeigt haben soll. Auch eine Familie irakischer Herkunft macht sich verdächtig: der Vater (Ferhat Keskin) ein stolzer Imam, sein Sohn (Shadi Eck) in Kokaingeschäfte verstrickt; dieser könnte den Keller des Opfers als Drogenversteck benutzt haben. Nachdem der junge Mann Bönisch heftig provoziert hat, nimmt die ihn fest, etwas unsanft. Die Handys sind gezückt, ein gefundenes Fressen für die Trolle im Netz. Der Fall gerät etwas in den Hintergrund. Und während Faber schnapsumnebelt den Obdachlosen-Reggae mit einem Corona-Opfer (Jürg Plüss) tanzt, fällt Bönisch zwischen alle Stühle.
Foto: WDR / Martin Menke
Mehr denn je gerät in „Heile Welt“, dem achtzehnten „Tatort“ aus Dortmund (zählt man das zweiteilige Crossover mit München als einen), das Team in den Fokus. Vorneweg Bönisch. „Du Polizeihündin, Du hast Dortmund-Verbot“, wettern die einen im Netz ob des vermeintlichen „Ausländerhasses“ der Kommissarin. Unversöhnlich zeigt sich vor allem die Online-Journalistin Annika Freytag (Jaela Probst). Applaus bekommt Bönisch dagegen von der rechten Seite: Hardliner Nils Jacob (Franz Pätzold), der bereits in der Episode „Hydra“ eine tragende Rolle spielte, versucht, sie für seine Ziele zu instrumentalisieren. In den politischen Strudel geraten auch die jungen Kollegen. Rosa Herzog, die Neue, wird von Freytag über den Rassismus in der Dortmunder Polizei aufgeklärt, was bei ihr gewisse Zweifel an der Integrität von Bönisch weckt. Auch diese Szene dockt clever bei „Hydra“ an; es ist jene Episode, in der Nora Dalay ein Hakenkreuz auf den Bauch gesprayt wurde. Selbst Pawlak bekommt etwas ab von dem öffentlichen Rumoren. „Zeichen setzen“, heißt das Schlagwort. Zu spüren bekommt es seine Tochter in der Kita, und dann ist auch mal wieder Pawlaks Frau, ein Ex-Junkie, abgetaucht. Und Faber? Der hat seinen Kamikaze-Ermittlungsstil deutlich heruntergefahren, ja, er bemüht sich geradezu um seine Kollegin. Doch die hat dummerweise einen Verehrer, der kommt auch noch aus den eigenen Reihen; es ist Haller (Tilman Strauß) von der KTU, also nicht nur so eine „Hotelbekanntschaft“, wie Faber gehofft hatte. Und so stimmt der „Ausraster“ vom Dienst diesmal eher einen stillen Befindlichkeits-Blues an.
Der „Tatort“ aus Dortmund geht mal wieder direkt dorthin, wo’s wehtut. Das Hochhausviertel ist ein Schmelztiegel der Kulturen – ein anonymer Wohnort zwar, aber jeder weiß hier, auf wen er sich einlassen kann und auf wen eher nicht. So wie es in dieser Episode innerhalb des Polizeiquartetts weniger Probleme mit dem Teamgeist gibt, das Unheil vielmehr von außen hereingetragen wird, so wird das fiktive Gerberzentrum im Film auch eher von außen zum sozialen Brennpunkt gemacht. Die Bewohner und die Vorfälle in dieser Hochhaussiedlung werden – ähnlich wie Bönisch – von den radikalen politischen Kräften instrumentalisiert. Einen Schauplatz zu schaffen, der gleich auf mehrere Arten zum Tatort wird, ist ein dramaturgisch cleverer Schachzug von Autor Jürgen Werner, der Miterfinder des „Tatort“ aus Dortmund ist und es bislang auf satte elf Drehbücher für diesen Reihenableger bringt. Neben dem trostlosen Wohnblock gibt es noch einige Szenen auf dem Kommissariat, die in erster Linie eine emotionale Zustandsbeschreibung abgeben: die verzweifelte Bönisch, die zweifelnde Herzog, der privat beunruhigte Pawlak und der nachdenkliche Faber, der seinen wahren Seelenzustand allerdings erst bei Bierchen, Schnaps & Fast Food seinem neuen „Freund“ preisgibt. Die restlichen Szenen zeigen die existentiell schwer gebeutelte Kommissarin und den emotional leicht angeschlagenen Kollegen im Auto, mal witzelnd oder schweigend, dann auch mal solo, mal mit, mal ohne „Sunshine Reggae“. Durch die reduzierte „Raumaufteilung“ wirkt „Heile Welt“ ungemein dicht in seiner Narration. Alles hat seinen Sinn, es gibt viele Bezüge zwischen den Szenen, ohne dass dies überdeutlich angezeigt würde.
Foto: WDR / Martin Menke
Der Film gehört zu den Höhepunkten des stets sehenswerten „Tatort“-Ablegers aus Dortmund, der eine Handschrift besitzt, die über Plot-Vorlieben und filmischen Stil hinausgeht. Oft sind die Geschichten am politischen Puls der Stadt abgesiedelt, dazu bevorzug(t)en die meisten Regisseure einen Look, der zu Fabers Parka passt. Was die konfliktträchtige Gruppendynamik angeht, so bewegt sich die Reihe thematisch und erzähltechnisch auf der Höhe der Zeit. Es wurden gelegentlich archetypische Familienkonstellationen durchgespielt, wobei es – im übertragenen Sinne – weder zum Vatermord noch zum Inzest kam, dafür durchliefen „Mama“ Bönisch und „Papa“ Faber eine Art On-Off-Beziehung. Während Aylin Tezels Nora Dalay eher dem „wilden“ Vater imponieren wollte, könnte sich ab jetzt Rosa Herzog, von der Österreicherin Stefanie Reinsperger (32) vielversprechend verkörpert, stärker an Bönisch abarbeiten: Es dürfte kein Zufall sein, dass es die beiden Frauen sind, die die Wohnung der schwangeren Toten gemeinsam sichern, in der bereits das Kinderzimmer liebevoll eingerichtet ist. Beide haben die gleiche Haarfarbe und tragen einen ganz ähnlichen Dutt, ja, in Herzogs Einführung wird sogar damit gespielt, dass der Zuschauer sie für Bönisch halten könnte.
Das gute Drehbuch findet in der stimmigen Inszenierung von Sebastian Ko („Wir Monster“ / „Tatort – Kartenhaus“ / „Helen Dorn – Atemlos“) seine filmische Entsprechung: Sie ist genau im Detail, lässt den Schauspielern genügend Raum, sorgt aber auch für atmosphärisch starke Bilder und sinnliche Augenreize, zu denen die wirkungsvolle Integration von Social Media auf der Filmebene genauso gehört wie die vorzügliche Farbdramaturgie. Immer wieder finden sich wackelige Handyaufnahmen im Fluss der Bilder. So wie in der Geschichte die sozialen Medien die Wahrheit nicht nur beeinflussen, sondern geradezu manipulierend verändern, so drängen sich die Manifestationen der Meinungsmache im Internet auch auf der Bildebene immer wieder in den Vordergrund. Anfangs müllen die widerwärtigen Posts die Totale der Hochhaussiedlung zu. Später knallen dann genau an diesem Ort Fäuste, Bengalos und Brandsätze. Selten schafft ein Krimi die Verbindung von Genre und Gesellschaftsanalyse, ohne dabei bemüht oder didaktisch zu wirken. Wie im bereits erwähnten „Hydra“ gelingt es den Machern in „Heile Welt“ ganz vorzüglich, die skrupellosen Methoden der populistischen Meinungsmache aufzuzeigen, perfideste Simulationen inklusive. Jürgen Werner gibt den Charakteren in erster Linie keine Haltungsnoten, sondern er analysiert im Vorbeigehen das Prinzip der gesellschaftlichen Spaltung, wie es von den Rechten betrieben und von den Linken im Film nicht hinreichend durchschaut wird. Und indem eine Sympathiefigur in den Strudel der Niedertracht gerät, wird dieser (medien)politische Fall bald zum Kern dieses Films. Dieser „Tatort“ ist ein Krimi, der deutlich macht, dass es Wichtigeres gibt als Krimis und der diese These durch empathische Spannung wirkungsvoll unterstreicht. (Text-Stand: 24.1.2021)