Paul Brix (Wolfram Koch) hätte sich mal besser darüber informiert, in was für ein Haus er da vor einigen Jahren gezogen ist. Ein Fluch scheint auf dem ehemaligen Waisenhaus zu liegen – jedenfalls glauben das die Menschen in Kahlberg. Und der Kommissar und seine Kollegin Anna Janneke (Margarita Broich) wissen bald nicht mehr, was hier eigentlich los ist. Zuerst will ein alter Mann, der schon für tot erklärt wurde, das altehrwürdige Anwesen abfackeln. Wenig später entdeckt Brix auf dem Dachboden ein Kinderskelett. Dann weicht ihm die Enkelin des seltsamen Greises, Merle (Luise Befort), bei seinen Ermittlungen nicht mehr von der Seite; sie verhält sich merkwürdig und will unbedingt in das alte Haus. Dort hält Janneke derweil die Stellung – und muss sich ernste Sorgen um Fanny (Zazie de Paris) machen, die esoterisch angehauchte Mitbewohnerin ihres Kollegen. Die dreht auf, dann durch und scheint bald nicht mehr Herrin ihrer Sinne zu sein. Fannys Funde im Keller des Hauses werden vom Frankfurter Kriminalarchiv bestätigt: In dem ehemaligen Waisenhaus kam durch einen Kinderstreich vor rund 60 Jahren die Heimleiterin ums Leben. Der halbtote Mann, Otto Schlien (Axel Werner), hat dort gelebt, und er war der Sohn der im Fluss ertrunkenen Wohltäterin. Wenige Monate nach ihrem Tod, verschwand ein siebenjähriges Heimkind. Das sind die Fakten. Überlebende gehen davon aus, dass der Geist der Toten noch immer durch das Haus spukt.
Wenn im Fernsehfilm oder in einer Krimi-Reihe das Phantastische in die Realität eindringt, wird es meist in mehrfacher Hinsicht seltsam. Weil der Wahrnehmungsrahmen die Wirklichkeit bleibt, kollidieren die beiden unterschiedlichen Welten – und der Zuschauer fällt so aus der Illusion der Genres. Bei der Science-Fiction, die mit dem Fortschrittsglauben spielt, also der Annahme, dass die neue virtuelle Welt die aktuelle reale Welt irgendwann ablösen könnte, ist der von Haus aus konservative, eher phantasielose deutsche Fernsehzuschauer etwas offener für den Einzug des Phantastischen in den Unterhaltungsfilm. Und so ist es kein Zufall, dass die einzigen realistisch-phantastischen „Tatort“-Mixturen bisher schräge SciFi-Krimis waren – das begann mit „Tod im All“ und konnte 2016 mit „HAL“ und „Echolot“ als kleiner Mini-Trend fortgesetzt werden. Ungewöhnlich war zuletzt der „Tatort – Borowski und das dunkle Netz“, in dem es blutige Horror-Momente zu bestaunen gab. Nun wagt sich der wie immer besonders mutige Hessische Rundfunk an einen reinrassigen Horrorfilm-„Tatort“. Und siehe da, der bietet nicht nur Abwechslung vom Ermittlungskrimi-Einerlei, sondern funktioniert ganz prächtig! Hauptgrund: Autor Christian Mackrodt und Regisseur und Ko-Autor Andy Fetscher peppen das Krimi-Genre nicht mit ein paar Horror-Versatzstücken auf, sondern entwickeln parallel zur alltagsnahen Welt der Kommissare, in der Brix am Ende augenzwinkernd den Abenteuer(film)helden und Frauenretter geben darf, die übernatürliche Welt des „Haunted House“. Und in diesem Geisterhaus findet man, was Horrorfilme immer gern mitbringen: ein unheimliches, altertümliches Interieur, einen ungemütlich engen Keller und einen Dachboden, der so manches Geheimnis unter seinen knarrenden Dielen verbirgt. Auch filmisch ist alles erlaubt, was das Genre hergibt: Es blitzt und donnert gleich zu Beginn, es gießt in Strömen, der tödliche Bach rauscht und auch der Nebel wabert still vor sich hin.
Foto: NDR / Hansen & Raiber
Redakteur Jörg Himstedt über die Besonderheiten eines Horrorfilm-Drehs:
„Der Horrorfilm und der Aufbau von Schockmomenten erfordern eine gewisse Arithmetik, die dazu führt, dass die Schauspieler manchmal „technisch“ agieren müssen und der Dreh dadurch etwas kleinteilig wird. Ein Horrorfilm erfordert viele Details, die im Schnitt – zusammen mit den Soundeffekten und der Musik – eine große Rolle spielen. Das hat aber niemanden davon abgehalten, eine geradezu kindliche Freude am Spiel zu entwickeln. Besonders für Zazie de Paris als Fanny, die vom Geist besessen ist, war es eine schauspielerische Tour de force.“Der Horrorfilm besitzt hierzulande keine Tradition
Iin den USA gehört der Horrorfilm als Subgenre des Phantastischen Films seit über 100 Jahren (bei uns hatte er eine kurze Blüte im expressionistischen Film) zur Popular culture, also zum Mainstream, und mit Krimi, Western, Science-Fiction und Komödie zu den ersten Kinogenres der Filmgeschichte überhaupt. In Deutschland wird der Horrorfilm eher despektierlich betrachtet, missverstanden als Subkulturgenre, das vor allem für Teenager in der Findungsphase attraktiv ist.
Auch die Geschichte um das ehemalige „Haus der Barmherzigkeit“ erweist sich nicht erst am Ende als konsistent und – gemessen am Genre – durchdacht und in sich stimmig. Da gibt es diese Familie, auf der ein Fluch liegt, und das Haus, in dem noch immer der Geist einer Toten ihr Unwesen treibt und der zwischenzeitlich in die rothaarige Fanny fährt. Diese Familie kennt das Böse und das Gute: Merle, die Enkelin des Alten, so nimmt man an, muss gut sein – und doch ist dieses Mädchen nicht ganz von dieser Welt: „Merle ist kein junges, unschuldiges Mädchen“, sagt ihre Großmutter in typischer Mystery-Genre-Manier. Ihr Sohn, Merles Vater, indes ist ein ganz übler, gefährlicher Bursche. Ob ihr Großvater ein Mörder ist, gehört zu den Fragen, die sich der Krimifall stellt. Und dann ist da im Ort noch eine weitere Familie der moralischen Extreme. Das Personal ist überschaubar, sodass genug Zeit bleibt für den nötigen Genre-Flair: unheimliche Atmosphäre, moderater Grusel, darunter zwei, drei schockhafte Gänsehautmomente und ebenso viele postmoderne „Poltergeist“-Effekte. Fürchte dich“ steht in der (literarischen) Tradition der Schauergeschichten, ein bisschen dunkles Märchen, ein bisschen Krimi, ein bisschen Spannung. Der Ausstrahlung des Films um 20.15 Uhr steht aber nichts entgegen; eine „nachhaltige Ängstigung“ ist nicht zu befürchten (Sollte dieser HR-„Tatort“ auf DVD erscheinen, wäre ihm eine Freigabe ab 12 so gut wie sicher). Nicht-Splatter-Fans mussten allerdings schon das Schlimmste befürchten: Die beiden Filme, mit denen Regisseur Andy Fetscher im Kino und auf DVD von sich reden machte, „Bukarest Fleisch“ und „Urban Explorer“, bekamen nämlich beide eine FSK-18. Mit mehreren „SOKO Leipzig“-Episoden näherte sich Fetscher dann aber dem TV-Mainstream(krimi) an – und erreicht mit seinem Hybrid-„Tatort“ nun eine bemerkenswerte handwerkliche Qualität.
„Fürchte dich“ sollte den Sendern Mut machen, bei den Genre-Mixturen noch mehr zu wagen und den Krimi nicht nur als Action-, Polit- oder Psychothriller zu variieren, sondern mit ungewohnten Genreelementen zu experimentieren. Ein zeitreisender Kommissar wäre schön; da ließe sich sogar der gute alte Themenfilm wiederbeleben. Auch Tukur in einem Musical wäre eine feine Sache (und handlungslogisch gar nicht so schwer zu realisieren). Und die Idee, dass jemand mal Krimi (im Stile von der „Dünne Mann“) in ein Screwball-Comedy-Setting verpflanzt, davon träumt der Kritiker schon seit Jahren. (Text-Stand: 5.10.2017)