Sich in einem heruntergekommenen Grenzland sein eigenes „Reich“ schaffen
München ist plötzlich ganz weit weg. Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) & Ivo Batic (Miroslav Nemec) verschlägt es ins niederbayerische Grenzgebiet. Doch schlimmer noch als dieses Kaff, in dem die Kommissare trotz einer zünftigen Dorfwirtschaft dauernd Kohldampf schieben müssen, ist diese Mischpoke, mit der es die zwei hier zu tun bekommen. In München ist ein junger Mann ums Leben gekommen. Tod in der Badewanne. Keine Tatwaffe, dafür jede Menge Beruhigungsmittel im Blut. Suizid oder inszenierter Selbstmord? Für beide Szenarien erweist sich die Indizienlage als widersprüchlich. Deshalb drängt Leitmayr den lustlosen Batic, eine mehrstündige Dienstfahrt an den Ort zu unternehmen, an dem der Tote, Florian Berg, zuletzt gelebt hat. Der junge Mann gehörte zu den „Freiländern“, einer Gruppe von Menschen, die die Bundesrepublik Deutschland nicht als ihren rechtmäßigen Staat anerkennen. Sie sind dabei, sich in der heruntergekommenen Grenzlandgemeinde ihr eigenes „Reich“ zu schaffen. Ihr „König“ ist Ludwig Schneider (Andreas Döhler), seine rechte Hand ist der „Jurist“ und Wadenbeißer Roland (Thorsten Krohn), das Objekt Ludwigs (heimlichen) Begehrens ist scheinbar Lene (Anja Schneider), die mit ihrer blinden Tochter auf dem Hof ein Zuhause gefunden hat. Mit der nötigen Distanz, aber auch amüsiert sieht sich das Faktotum des Ortes, Gastwirt Alois (Peter Mitterrutzner), das Treiben dieses wilden Haufens an – und profitiert offenbar davon. „Zug’reiste Spinner“ sieht auch der Dorfpolizist Mooser (Sigi Zimmerschied) in den „Freiländern“. Aus der Ruhe lässt der sich von ihnen nicht bringen. Und was diese Städter schon wieder wollen!? „Der Ludwig ist keiner, der einen umbringt.“
Überall treffen Batic & Leitmayr auf Widerstand: Staatsbeamte ohne Autorität
Die Hölle, das sind in dem „Tatort – Freies Land“ mal wieder die anderen. Für die aus unzufriedenen Bürgern zusammengewürfelte Gemeinschaft mit ihrer abstrusen Ideologie ist es das System, der Staat Bundesrepublik, gegen den es aufzubegehren gilt. Tatsächlich sind in Bayern rund 3500 dieser sogenannten „Reichsbürger“ registriert. Der Verfassungsschutz hat ein Auge auf sie geworfen, fährt aber gemeinsam mit den Behörden eher einen Deeskalations- und Nichtangriffskurs. Im Film klingt das dann so: „Die Beamten sollten tunlichst der narzisstischen Versuchung widerstehen, dem Reichsbürger die Stirn bieten zu wollen. Jeder missionarische Eifer im Sinne einer Gegenreformation hat in jedem Fall zu unterbleiben.“ Als Batic diese Zeilen dem Kollegen im Auto vorliest, ahnen die Kommissare noch nicht, was auf sie zukommt. Sie sind es nicht gewohnt, dass ihre Autorität als Staatsbeamte so massiv hinterfragt wird. Alle weigern sich, mit ihnen zu reden. Sogar der Dorfpolizist macht kein Geheimnis daraus, was er von den Besserwissern aus der Stadt hält. Sie werden missachtet und beschimpft, sogar handgreiflich werden ein paar Burschen – was im Internet-Post alles andere als eine Imagewerbung für die Kripo ist: „Ihr seid Volksverbrecher und Ihr wollt wehrlose Bürger umbringen.“ Die Kommissare können sich nur noch wundern. Aus lauter Frust reagieren sie selbst nicht sehr viel anders als die „Freiländer“. Immer drauf, nicht auf die anderen, sondern den anderen. Ist dieses Ehepaar-Verhältnis der beiden (sie feierten ja bereits Silberne Hochzeit) sonst ein Ritual, das bisweilen etwas gewollt witzig wirkt und nicht immer zum Krimi-Plot passt, so ist es in dieser Geschichte sinnvoll eingesetzt: Zum einen stimmt es den Zuschauer auf die Tonlage des Films ein, zum anderen projiziert Autor Holger Joos das psychologische Prinzip der wütenden Gegenweltler auf die Antagonisten. Für die Kommissare ist der Kollege und Freund zwar nicht die Hölle, aber zumindest ein Depp.
Verführung, Verrat, Verlorensein, christliche Ikonografie & Western-Mythologie
Für den Krimi bietet diese auf den Kopf gestellte Welt eine reizvolle Abwechslung, die ganz nebenbei für die Staatsdienerschaft von Kommissaren sensibilisiert und ein erschwertes, für den Betrachter sehr unterhaltsames (Anti-)Ermitteln nach sich zieht. Das Ergebnis ist dennoch tragisch. Die Freiländer oder zumindest eine(r) von ihnen sind selbst dran schuld, weil sie nicht mit den Silberlocken von der Münchner Kripo reden woll(t)en. Zugleich scheitern aber auch die Kommissare an diesem renitenten Mikrokosmos. Irgendwann fällt ihnen gar nichts mehr ein – außer: „Wir brauchen das SEK.“ Und im Wettstreit zwischen christlicher Ikonografie und Western-Mythologie scheint nach dem letzten Abendmahl von Schneider & seinen Jüngern die Gewalt zu obsiegen. Verführung und Verrat sind weitere Motive der Geschichte. Da die Kommissare in diesem Krimi einmal nicht – wie es oft heißt – „in alle Richtungen ermitteln“ können, haben dafür Joos und Regisseur Andreas Kleinert die Geschichte in alle Richtungen geöffnet. Da geht es erst einmal wertfrei um die Grenz-Erfahrungen, wie sie der Western erzählt: das Besiedeln des eigenen Grund und Bodens, der Kampf zwischen Individuum und Gesellschaft, der Traum von der Unabhängigkeit – das alles sind klassische Werte dieses uramerikanischen Genres. Auch die aktuelle Staats- und Politik-Verdrossenheit finden unübersehbar Eingang in die Geschichte. Rigide Abgrenzung und Ausländerfeindlichkeit bleiben (anders als zuletzt im „Tatort – Sonnenwende“) aber nur Motive am Rande. Die „Freiländer“-Gemeinschaft im Film ist ein Sammelbecken für Zukurzgekommene, für „Menschen, die aus der Gesellschaft gefallen und verzweifelt auf der Suche nach einem neuen Zuhause sind“, so Joos. So berührt der Film am Ende die Frage, „ob die Reichsbürger das Problem oder nur ein Symptom einer sich immer weiter zersplitternden Gesellschaft sind, in der sich immer mehr Menschen abgehängt und verloren fühlen“.
„Wie kommen Menschen dazu, die Bundesrepublik Deutschland als legitimes Staatengebilde zu hinterfragen und einen eigenen Staat zu gründen – wie Peter Fitzek, der sich 2012 von ‚seinem Volk‘ zum ‚König von Deutschland‘ krönen ließ? Es interessierte uns, was psychologisch dahintersteht: eine allgemeine Unzufriedenheit, ein beschädigtes Vertrauen in die Politik, das Bedürfnis nach neuen Wahrheiten. Auch ein Verlangen nach öffentlicher Selbstdarstellung und Aufgehobenheit in einer Gemeinschaft, die sich unter Ausgrenzung aller anderen selbst bestimmt.“ (BR-Redakteurin Stephanie Heckner)
Deutsche Tradition: Volksgemeinschaft unter Zwang – meisterlich ins Bild gerückt
Die Absurdität dieses Staat-im-Staat-Szenarios steht deutlicher im Mittelpunkt als die Entzauberung des schönen Traums der „Freiländer“. Die ländliche Idylle, die Regisseur Kleinert zu Beginn kurz andeutet, im Gegensatz zur krachig-hektischen Großstadt und dem Geisterort nebenan, in dem es außer Satellitenantennen wenig zu sehen gibt, ist eine Lüge. Von wegen Freiland: Die Gemeinschaft verbarrikadiert sich, versteckt sich hinter einer Mauer aus Blech. Auch das Wohnhaus ist ein fast fensterloses Anwesen. Düster ist es, Gardinen und Gitter statt Ausblick: So sieht dieses Paradies aus. Volksgemeinschaft unter Zwang – eine deutsche Tradition. Allein wenn der Meister mit Suppe und Hoffnung die Herzen wärmt, scheint diese kleine Welt einigermaßen in Ordnung. Aber die Bilder von Kameramann Johann Feindt, großartig die atmosphärische Lichtdramaturgie, und der gesunde Filmverstand sagen einem: Dieser Traum wird platzen. Denn der Tod des jungen Mannes muss etwas mit diesen Leuten zu tun haben. Vielleicht hat ja einer Schuld, ja vielleicht ist sogar einer ein Mörder. Dass es ausgerechnet den, der für die Buchhaltung zuständig war, erwischt hat, bestätigt derlei Befürchtungen. Einen besonderen Schauwert besitzt auch das Dorf, in dem sich Batic und Leitmayr so schön auf die Nerven gehen. Der Gasthof mit seinen vermeintlichen zwei Einzelzimmern ist ein kleines Meisterstück in Sachen Szenenbild (Myrna Drews). Und für diese fremde, seltsame Welt hat Regisseur Kleinert die kongenialen Gesichter gefunden, keine großen Namen, allerdings Peter Mitterrutzner und Sigi Zimmerschied, zwei bayerische Urviecher von Format, und Andreas Döhler (im „Tatort – Der kalte Fritte“ als eben dieser zu sehen), dessen furiose Rattenfänger-Rhetorik man noch nach Tagen nicht aus dem Ohr bekommt. Der Film besitzt eine außergewöhnliche Aura. Wen wundert’s, dass da am Ende der gute Franz – im Schutze der Nacht – im See nackt baden geht. (Text-Stand: 9.5.2018)