Eine anonyme Botschaft mit GPS-Koordinaten und einem Aphorismus lotst Isabelle Grandjean (Anna Pieri Zuercher) hinunter an den Fluss. Am nächtlichen Ufer findet die Zürcher Kommissarin die Leiche eines mit Schierling vergifteten Mannes. Im Mund des Opfers steckt eine antike Münze. Der Mythologie nach ist der „Charonspfennig“ ein Obolus für die Fährfahrt in das Totenreich des Hades. „Ein Wichtigtuer“, bringt Staatsanwältin Wegenast (Rachel Braunschweig) die Täterprognose nüchtern auf den Punkt. Und nur Grandjean ahnt, warum ausgerechnet sie das Opfer finden sollte. Mit einen Schierlingsmord begann ihre Karriere bei der Kripo.
Ganz anders als wichtigtuerisch wirkt Marek (Lucas Gregorowicz) aus Warschau. Grandjean, ein wenig einsam im Advent, begegnet ihm am Glühweinstand. Marek trifft den richtigen Ton und ist überaus charmant. Später, an einem anderen Schauplatz wird aus Marek der Unternehmensberater Kowalski. Einer, den viele fürchten. In der Bank wissen sie schon Bescheid: Kowalski macht die Ansagen und dann fliegen Leute raus. Auf dem Flur geht man dem Mann besser aus dem Weg. Allein im Besprechungsraum spielt Kowalski den Schicksalsgott. Er liebt es, den Zufall über die Statistik siegen zu lassen. Marek Kowalski ist ein Teufel in feinem Zwirn. Aber: auch er steht längst am Ufer. Ein bösartiger Hirntumor zwingt ihn in die Knie.
Foto: SRF / Sava Hlavacek
Von Anfang an wissen wir mehr über Kowalski als die Kommissarinnen. Den Täter umgibt ein Rätsel, das zwar nicht als zwingend schlüssiges Mordmotiv durchgeht, die Figur aber interessant macht. Das Motiv ist in diesem Fall zweitrangig. Es geht um Befindlichkeiten und Schwächen, die andere zu nutzen wissen. Die Autoren Stefan Brunner und Lorenz Langenegger haben das Duo Grandjean/Ott 2020 für den Schauplatz Zürich kreiert. In „Tatort: Fährmann“ variieren sie ihre Figuren. Regisseur Michael Schaerer („Tatort: Von Affen und Menschen“, 2024) nimmt vor allem Grandjean unter die Lupe. Wie auf dem Seziertisch folgen wir ihr durch ein trauriges Solo. Ihre Einsamkeit und ihre Zweifel, in einem früheren Fall versagt und damit einen Menschen in den Freitod getrieben zu haben, machen sie angreifbar. Ungeschminkt und erfreulich unkitschig tauschen die Kommissarinnen die Rollen. Die sonst kontrollierte Grandjean gerät aus der Bahn, die üblicherweise impulsive Tessa Ott (Carol Schuler) behält den Überblick. Als sie nicht mehr zu ihrer Kollegin durchdringt, erkennt sie die Gefahr.
Ott ist es auch, die die „normalen“ Ermittlungsschritte abarbeitet. Während das Geschehen rund um Grandjean eher den Genre-Regeln eines Psychothrillers folgt, geht Ott ganz klassisch der Fährte des Opfers nach, findet Beweismittel und recherchiert mit Datenanalyst Noah (Aaron Arens darf wie immer wenig mehr als vor Monitoren sitzen) ähnliche Fälle aus der Vergangenheit. Die verteilen sich auf mehrere Standorte. Was die Opfer eint, ist der Verlust ihrer Arbeit kurz bevor sie vergiftet wurden. „Globalisierte Wirtschaft, globalisierte Serientäter“ – nicht einer der besten Dialogsätze, aber einer von der Tessa Ott, die man kennt.
Die Vorweihnachtszeit übersetzt „Tatort – Fährmann“ nicht in rieselnden Schnee, sondern in Schneeregen, der Menschen mit langem Haar traurig aussehen lässt. Dazu blinken Lichterketten und verschwimmen Farbakzente im Hintergrund. Die Bilder sind nicht so spektakulär wie in Schaerers letztem Zürich-Fall. Sie setzen auf Realismus. Im Kontrast zu den Farbspielen hinter Nahaufnahme oder Dialogszene bewegen sich die Ermittlerinnen oft durchs Dunkel. Besonders überzeugen die Gegensätze zwischen warm und kalt beim zweiten Wiedersehen von Grandjean und Marek. Nachdem sie langsam den Zusammenhang ihrer „Zufallsbegegnung“ erkennt, verlässt er die Szene und alle Lichter gehen aus. In der nächsten Einstellung fährt die Kamera dann an der kalten Betonfassade des Polizeipräsidiums entlang. So sieht die Welt wirklich aus. Sparsam geht dieser „Tatort“ mit den titelgebenden Verweisen aus der griechischen Mythologie um. Das Bild des Fährmanns schwebt wiederholt im Nebel vorüber. Während sich eine Frau vom Ufer ins Licht zurückkämpft, wartet am Ende ein Mann vergeblich auf die Passage. Anna Piri Zuercher überzeugt in dramatischen Finale und Carol Schuler ist doch noch ein guter Spruch gegönnt. „Ich stürm jetzt dann gleich ne Großbank, geil – oder?“ ruft sie Grandjean zu. Da haben sich die beiden längst wieder gefunden.
Foto: SRF / Sava Hlavacek