Ein kultivierter Mörder stellt sich dem Gespräch
Teilnahmslos begeht Felix Murot den Tatort. Ein seltsam unwohnlicher, großer, leerer Raum, nebenan liegt eine Frau tot in der Badewanne. Ungewohnt distanziert reagiert der LKA-Mann auf das Blutbad: Der Frau sind an beiden Armen die Pulsadern aufgeschnitten, außerdem wurde dem Opfer die Kehle durchtrennt, wie Murot später auf der Pressekonferenz mitteilt. Ist es nur sein Geburtstag, der ihm an die Nieren geht und ihn so indifferent an seinen neuen Fall herangehen lässt? Die abendliche Feierstunde ihm zu Ehren jedenfalls findet ohne ihn statt. Sein Kommentar: „Ich bin ein Jahr älter; was gibt es da zu feiern?!“ Oder hat die große Nachdenklichkeit mit dem Fall zu tun? Denn die tote Frau ist Opfer Nummer sechs. Schon seit zwei Jahren geht ein Serienmörder in Wiesbaden um – immer das gleiche Muster, dieses Mal kam der Kehlschnitt hinzu. „Ich bin der Mann, den sie suchen“, meldet sich abends per Handy der Mörder bei Murot. Wenig später treffen sich beide. Der Mann will klarstellen, dass er den letzten Mord nicht begangen hat. Er scheint besessen von einer fixen Idee zu sein, er spricht nicht von Mord, sondern von würdevollem Sterben. Die Öffentlichkeit müsse das wissen. Murot drängt auf eindeutige Beweise. Wenig später in einem verfallenen Anwesen außerhalb der Stadt bekommt er sie. Der Mörder wirkt kultiviert, Murot hält ihn für verrückt.
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Der Antagonist stiehlt dem Protagonisten die Schau
Nur so viel von der Geschichte, um dem Zuschauer nicht das Vergnügen und die Überraschungen des sechsten „Tatorts“ mit Ulrich Tukur zu nehmen. Der ist nicht nur im Kino-Format gedreht, sondern nach der magischen Shakespearschen Killer-Opern-Phantasie „Im Schmerz geboren“ und „Wer bin ich?“, einem raffinierten Krimi-Spiel mit Rollen und Wirklichkeitsebenen, ist „Es lebe der Tod“ auch wieder großes Kino. Dramaturgisch und optisch kommt der Film von Sebastian Marka nach dem Drehbuch von Erol Yesilkaya allerdings zunächst sehr viel bescheidener daher, trägt teilweise kammerspielartige Züge und ihm genügen drei Hauptcharaktere; drei weitere Figuren sind allenfalls Nebenfiguren-Beiwerk. Dass man das erst merkt, nachdem man den Film gesehen hat, spricht für die Qualität dieses hoch konzentrierten „Tatorts“, der sich zu einem Zweikampf zwischen Murot und dem Mörder entwickelt, in den auch LKA-Kollegin Magda Wächter auf sehr persönliche Weise involviert ist. Der Konflikt zwischen Protagonist und Antagonist wird vor allem (film)sprachlich atmosphärisch ausgestaltet: Die Sätze, die Dialoge sind einfach und klar, regelrecht betörend wirken sie durch die Art, wie der Mörder sie spricht und betont, durch die Klangfarbe, mit der seine Stimme den (leeren) Raum füllt. Jens Harzer spielt den Mann, der lange ohne Identität auskommt, mit echtem Kult-Potenzial. Das liegt auch an seiner Rolle.
Dieser Arthur Steinmetz – der Name ist erst nach 50 Filmminuten ermittelt – ist nicht der abgrundtiefe Psychopath, der auf kultiviert machende Lust-Mörder. Auch wenn es Murot lange nicht wahrhaben will, hat dieser Serienkiller tatsächlich etwas von einem – wenn auch tödlich zwanghaften – Erlöser. Dass er selbst bald sterben wird, macht ihn zugleich verletzlich, holt ihn heraus aus der Komfortzone des alles kontrollierenden Ego-Shooters, macht ihn menschlich und ein Stück weit sympathisch. Jedenfalls dürfte einem dieser intelligente, feinsinnige Mensch, wie er da so sitzt und erzählt aus seiner Kindheit, von seinen frühen, prägenden Erfahrungen mit dem Tod (und was für eine Erlösung er sein kann) nicht weniger fremd sein als der für einen TV-Ermittler nach wei vor schwer zugängliche Murot.
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Wo sich der Wahnsinn mit der Wahrheit trifft
Der Mörder – so viel sei verraten – hat es auf den LKA-Mann abgesehen. Ja, er ist Steinmetz’ heimliches Idol. „Sie haben mich damals inspiriert. Sie haben alles ins Rollen gebracht mit ihrem Wunsch“, sagt er. Gemeint ist, Murots Todeswunsch zu der Zeit, als sich der Tumor in seinem Kopf breit machte. „Kein Schmerz, keine Angst, würdevoll“, die Worte des Polizisten von damals, wurden zum Mantra des Wiesbadener „Erlösers“. Jetzt hat er bei Murot die Symptome der Depression wiederentdeckt – und tatsächlich, steht der LKA-Beamte nicht nur in seiner Freizeit verloren in seiner Wohnung neben sich, sondern steht zwischendurch auch auf dem Dach, offenbar zu allem bereit. „Die Traurigkeit macht einsam; die Einsamkeit macht traurig“, sagt der warmherzige Wahnsinnige und hat damit gar nicht mal Unrecht. Dieser Mann scheint Murot besser zu kennen als alle anderen Menschen; er kann hinter die Maske schauen. Es besticht im Übrigen auch an „Es lebe der Tod“, dass dieses Krimi-Drama durchaus einen ernstzunehmenden Diskurs über den Tod, den Schmerz, die Melancholie führt, über die Angst davor, eine unheilvolle seelische Erkrankung vererbt zu bekommen
Selten hörte man Dialogen in einem Fernsehfilm so gern zu wie in diesem. Das liegt auch daran, dass in ihnen Erlebnisse erzählt (!) werden, mal in Rückblenden visualisiert, mal nicht. Außerdem ist dieser Antagonist interessant, faszinierend, also will man wissen, weshalb er das geworden ist, was er ist. Und dann gibt es ja auch immer noch die Möglichkeit, dass das alles, was er berichtet, gelogen ist. Nachdem die Rückblenden, in denen auch Murots Kindheit zur Sprache kommt, hinlänglich geklärt sind, wird ihr Kontext später geschickt genutzt, um den Subtext der Erzählung in Bildern anzudeuten. Wird sich Murot dem Titel „Es lebe der Tod“ ergeben? Kehrt also der Fluch des Tumors aus den beiden ersten Episoden des „Tatorts“ Wiesbaden zurück? Sagt Tukur, der sich bekanntlich ausbedungen hat, aus dem „Tatort“ auch kurzfristig aussteigen zu dürfen, nach diesem starken Stück leise Servus? Die Suchmaschinen jedenfalls werden garantiert am 20. November 2016 spätestens gegen 21.30 Uhr kräftig rattern. Mögliche Eingaben: „Murot letzter Fall“ oder „Tukur Tatort Schluss“!