Langsam hebt Tristan Grünfels (Matthias Brandt) vom Boden ab, schwebt barfuß über der grünen Wiese, ein entspanntes Lächeln auf dem Gesicht. Der „psychologische Psychotherapeut“ flüchtet in dieses Traumgemälde, weil er mit der Wirklichkeit zu Hause hoffnungslos überfordert ist. Seltsamer Weise hört das Publikum gleichzeitig aus dem Off die Stimme von Matthias Brandt, der über Grünfels wie über eine andere Person spricht. Dieses Über-Ich von Grünfels ist einerseits der Erzähler, der gewissermaßen vor dem Vorhang steht und zum Publikum spricht, und andererseits die innere Stimme, die nur Grünfels hören kann. Hin und wieder tritt das Über-Ich auch in Erscheinung, um Grünfels ins Gewissen zu reden oder sein Verhalten mit überlegenem Grinsen zu kommentieren. Das Konzept ist stimmig, weil es so schizophren ist wie die Figur selbst. Ohnehin ist es hinreißend, wie Brandt mit seinem feinen Mienenspiel die tragikomische Verwandlung vom lebensmüden Niemand zum entschlossenen Wüterich vorantreibt. Wenn Tristan Grünfels in der zunehmend eskalierenden Handlung mit zerbrochener Brille durch die Gegend läuft, muss man unwillkürlich an den amoklaufenden William Foster (Michael Douglas) in „Falling Down“ denken. Zitatfreudig ist der Frankfurter „Tatort“ bis zuletzt und scheut dabei auch Namenswitze nicht. Zahlreich sind vor allem die Verweise auf die deutsche Romantik, auf Malerei (Caspar David Friedrich) und Musik (Richard Wagner). Tristans jüngerer Bruder heißt Hagen (Andreas Schröders), und Grünfels legt natürlich den Bezug zum Grünen Hügel in Bayreuth nahe.
Foto: HR / Bettina Müller
Der Therapeut ist ein Fremder in der eigenen Familie, den seine Frau Rosalie (Patrycja Ziólkowska) und die beiden heranwachsenden Kinder nur noch bedingt zur Kenntnis nehmen. Und dass ihn ausgerechnet Ersun (Soufiane El Mesaudi), der Freund seiner Tochter, halbnackt und kumpelhaft anquatscht, macht die Sache auch nicht besser. Ersun nennt sich Digitalkünstler und lädt den „Dottore“ zu seiner Ausstellung mit dem passenden Titel „Störungen der deutschen Seele“ ein. Der in der Seele tief verstörte Grünfels blickt dort wie der „Wanderer im Nebelmeer“ von dem vor 250 Jahren geborenen Caspar David Friedrich in eine (digital erzeugte) Landschaft, die allerdings nicht romantisch, sondern apokalyptisch ist. Begleitet von Explosionen, schreitet ein Monster immer näher auf den Betrachter zu – eine Vision, die wohl auch eine Metapher für das aus den Fugen geratene Grünfels’sche Leben sein soll. Zu diesem Zeitpunkt hatte der Therapeut bereits aus Versehen eine Frau vom Frankfurter Ordnungsamt getötet, die ihm ein Knöllchen fürs Falschparken verpassen wollte. Grünfels mit seiner Vorliebe für romantische Malerei hatte spontan angehalten, weil er im Sperrmüll ein Gemälde mit einer Landschaft wie in der fantastischen Eingangsszene entdeckte. Die wegen einer ruckartigen Bewegung von Grünfels gestürzte Marion Schweikhardt (Melanie Straub) wird nicht sein letztes Opfer bleiben.
Foto: HR / Bettina Müller
Der Therapeut will bei der Polizei eigentlich seine Beteiligung am Tod der Ordnungsbeamtin gestehen, wird dann aber aufgrund eines Missverständnisses von Kommissarin Anna Janneke (Margarita Broich) als Opferbetreuer angestellt. Die Polizei ist zudem noch mit einem zweiten Fall beschäftigt: Kommissar Paul Brix (Wolfram Koch) legt sich nach dem Tod eines Polizeispitzels mit Gangsterboss Leonardo Muller (Ronald Kukulies) an, bei dem auch Hagen Grünfels Spielschulden hat. Das Publikum kann den Visionen und Stimmen im Kopf des Psychologen Grünfels folgen und ist der Polizei somit stets voraus, was der Spannung aber keinen Abbruch tut. Grünfels, der sich doch nur nach innerem Frieden sehnt, wächst immer entschlossener und dabei ziemlich unfriedlich über sich hinaus. Janneke und Brix waren als Ermittler schon mal stärker gefordert, werden aber zum Abschluss ihrer „Tatort“-Karriere doch noch mit der Frage kommentiert: Könnte da was gehen zwischen den beiden? Margarita Broich und Wolfram Koch spielen ihre Figuren dennoch bis zuletzt auf eine sympathisch unprätentiöse Art. Dazu passt, dass Fußballprofi Timothy Chandler von Eintracht Frankfurt eine wenig glamouröse Gastrolle hat – als Reinigungskraft.
Die Episode „Es grünt so grün, wenn Frankfurts Berge blüh’n“ bestätigt noch einmal: Beim „Tatort“ aus Frankfurt mit Broich und Koch ging es so vielseitig, überraschend und spielfreudig zu wie an keinem anderen Standort der ARD-Krimireihe. Autorinnen und Regisseure durften sich in verschiedenen Genres ausprobieren, Geschichten schreiben und inszenieren, die regelmäßig die Grenzen des Formats ausloteten und somit neu definierten. Wie in dem Horrorstück „Fürchte dich“ samt spukendem Geisterhaus oder der konsequent finsteren Episode „Erbarmen. Zu spät“ über ein rechtsextremes Polizei-Netzwerk. Zum Abschluss drückt Matthias Brandt – ähnlich wie einst Nicholas Ofzcarek als unheimlicher Stalker in „Die Geschichte vom bösen Friederich“ – dem Film als Gast-Star seinen Stempel auf. Und der ins Fantastische übersteigerte Irrsinn reicht zwar nicht ganz an die wunderbar abgedrehte Episode „Falscher Hase“ von Emily Atef heran, dennoch sorgen die Drehbuch-Autoren Dirk Morgenstern und Michael Proehl sowie Regisseur Till Endemann für ein unterhaltsam-würdiges Finale. Zum Abschluss machen sie der romantischen Sehnsucht mit üppigem Nebel-Einsatz und Knalleffekt formvollendet den Garaus. Und Zazie de Paris singt als Fanny dazu ein letztes Chanson. Bravo. (Text-Stand: 15.8.2024)