Seit „Rififi“ (1955) unterhalten Filme und Serien mit abenteuerlichen Raubzügen, in denen das Unmögliche gelingt und die Reichtümer aus scheinbar uneinnehmbaren Festungen gestohlen werden. Die spanische Banknotendruckerei wurde 2017 in der Serie „La casa de papel“ (dt. Netflix-Titel: „Haus des Geldes“) von einem genialen „Professor“ und seinem schrägen Ganoven-Haufen leergeräumt. Man muss unwillkürlich an diesen weltweiten Serien-Erfolg denken, wenn der „Tatort“ die Bundesdruckerei, gewissermaßen das deutsche Pendant zum spanischen „Haus des Geldes“, in den Mittelpunkt rückt. Der Vergleich mit der weltweit erfolgreichen Serie hinkt natürlich gewaltig, sowohl im erzählerischen Ansatz als auch im inszenatorischen Aufwand, aber immerhin: Letztlich geht es auch in der Episode „Erika Mustermann“ um die – rein fiktionale – Frage: Lassen sich die Sicherheitsvorkehrungen der Bundesdruckerei vielleicht doch aushebeln? Damit keine räuberischen Begehrlichkeiten aufkommen, beteuert eine Schrifttafel gleich zu Beginn, dass die dargestellte Ausstattung und internen Abläufe der Bundesdruckerei frei erfunden seien. Und Produzent Martin Lehwald erläutert im Pressematerial, die Innenräume seien fiktional nachempfunden. Aktuelle Sicherheitstechniken durften nicht zu sehen sein.
Foto: rbb / Schiwago / Hardy Spitz
Ein Fahrradkurier wird von einem Auto überfahren und getötet. Fahrer oder Fahrerin haben Unfallflucht begangen, außerdem ist der Lieferanten-Rucksack des Opfers verschwunden. Dass sich der Kurier verfolgt fühlte, lässt die Inszenierung von Torsten C. Fischer vermuten – also geht es wohl um Mord. Wenig später weckt das Drehbuchteam um Dagmar Gabler mit einem starken Twist gesteigertes Interesse an der Story. Mit dem Ausweis des Toten machen sich Kommissarin Susanne Bonard (Corinna Harfouch) und Robert Karow (Mark Waschke) auf den Weg zu den Hinterbliebenen. Doch während sie die weinende junge Witwe befragen und Karow deren Baby beruhigt, kommt der vermeintlich verstorbene Xavier Weberlein (Hannes Wegener) mit seinem geschulterten Fahrrad quicklebendig hereingeschneit. Weberlein hatte seinen Ausweis verloren. Der Tote heißt in Wahrheit Tomás Rey, der eine Niere verkauft hatte, um mit seinem Bruder Luis (Henry Morales) und dem gemeinsamen Freund Gabriel Rosales (Alberto Wolf) dem Leben in den Slums von Caracas, der Hauptstadt Venezuelas, zu entkommen. Alle drei teilten sich beim Lieferdienst „Cheetahs“ den Ausweis von Weberlein.
Dass sie beim Lieferdienst nur eine Nummer sind, ist dem venezolanischen Trio ganz recht. Nachdem ihr Visum abgelaufen ist, sind sie ohne Aufenthaltstitel. Und weil ein Asylantrag keine Aussicht auf Erfolg hat, müssen sie unter dem Radar der Behörden bleiben. Entsprechend angespannt ist die Atmosphäre, als Bonnard und Karow von der Kripo in der Tür stehen. Jedenfalls ist es ungewöhnlich, ein Berliner Migrationsdrama mal aus der Perspektive südamerikanischer Armutsflüchtlinge zu erzählen. Das von Nicolas Maduro autokratisch regierte Venezuela steckt seit vielen Jahren in einer wirtschaftlichen Krise. Zufällig lenkt die diesjährige Vergabe des Friedensnobelpreises an die Oppositionspolitikerin Maria Corida Machado die Aufmerksamkeit auf das Land im Norden Südamerikas. In Caracas lebt ein großer Teil der drei Millionen Einwohner in Elendsvierteln, und die venezolanische Hauptstadt gehört zu den Städten mit der höchsten Kriminalitätsrate. Auch im „Tatort“ spielt die Organisierte Kriminalität eine Rolle, aber nur als unsichtbare Macht im Hintergrund. So vermeidet Fischers Inszenierung die typischen Elemente eines Mafia-Thrillers – und auch Stereotypen über kriminelle, migrantische Milieus.
Foto: rbb / Schiwago / Hardy Spitz
Schlüsselfigur ist vielmehr Annika Haupt (Annett Sawallisch) vom Sicherheitsdienst der Bundesdruckerei, deren „fast 4000 hungrige Mitarbeiter“ jeden Tag mehr bestellen würden, wie es kurioserweise im Drehbuch heißt (da kann man nur hoffen, dass die Druckerei in der Realität eine Kantine hat). Irgendwann verliebte sich Annika in Tomás vom Lieferdienst, weshalb sie schnell in Verdacht gerät, von ihrem „Latin-Lover“ (Karow) ausgenutzt worden zu sein. Zumal das Überwachungsvideo einen wütenden Tomás zeigt, der die Bundesdruckerei kurz vor seinem Tod mit einem schweren Lieferanten-Rucksack verließ. Die Idee eines Raubs von Ausweispapieren im großen Stil aus der Bundesdruckerei hat einigen Reiz, aber ein ausgefeilt konstruiertes Diebes-Abenteuer wird hier nicht gerade erzählt. Als größtes Sicherheitsrisiko erweist sich wieder einmal der Mensch. Aber Annett Sawallisch spielt die Annika glaubwürdig, intensiv, vielschichtig und jenseits der Erwartungen an eine weibliche Figur, die vermeintlich von ihrem jüngeren Liebhaber hinters Licht geführt worden ist. Und neben dem feinen Zusammenspiel von Harfouch und Waschke, die hier das fünfte und vorletzte Mal als mittlerweile eingespieltes Team zu sehen sind, gibt eine eigentümliche Figur aus dem Berliner LKA ihren Einstand: „Gott weiß das“, sagt Bonard ehrfürchtig und meint damit den IT-Experten Carsten Goth (Ben Hartmann). Die Berliner „Tatort“-Variante eines Computer-Nerds mag Heavy-Metal-Musik und lässt gerne Rennautos über seine Spielzeugbahn sausen. Als schräge Type ist er die Ausnahme in diesem geradlinig und in realistischer Anmutung erzählten Krimidrama.

