„Wir sind die Mord- und nicht die Mordverhinderungskommission“, erklärt Kommissar Steier seiner Kollegin Conny Mey. Ein geistig verwirrter Mann kommt mit dem „Ableben“ seines Sohnes nicht zurecht. Er kreuzt mal wieder bei der Polizei auf. „Mein Sohn liegt seit einem Jahr im Koma, und ich weiß, dass seine Freundin Miriam versucht hat, ihn zu ermorden, und dass Ihr Kollege Seidel diese Tat vertuscht hat“, behauptet er. Für Steier ist dieser Mann nur ein Spinner, für Mey ist er „hochgradig wahnhaft“ und zu allem bereit. Tatsächlich bedroht er wenig später die junge Frau, von der er behauptet, sie sei die Freundin seines Sohns gewesen. Dabei ist sie doch nur eine Autofahrerin, die den überfahrenen jungen Mann gefunden hat. Obwohl dem Vorgang mehrfach polizeilich nachgegangen wurde, könnte sich der Unfall doch etwas anders abgespielt haben. Wie dem auch sei – der Vater sinnt offenbar auf Rache.
Das Frankfurter „Tatort“-Duo führt sich mit einem Nicht-Fall ein, der sich zum spannenden Krimi-Drama mit Thriller-Momenten auswächst. Es ist ein Einsatz ins Leere, ins Dunkel der Nacht. Das ermöglicht, dass das Augenmerk zunächst vor allem auf die Kommissare gerichtet ist. Nina Kunzendorfs Conny Mey bedient die Metapher vom besten Pferd im Stall auf ungewöhnliche Weise, was ihr Kollege entsprechend kommentiert: „Ihren Schritten nach habe ich ein Pferd erwartet.“ Die Kommissarin glänzt durch ihre Schlagfertigkeit und ihre direkte, offene, einnehmende Art. Sie wirkt unkompliziert, würde nicht Kunzendorf sie spielen, würde man ihr keine allzu große Seelentiefe zutrauen. Einige Rätsel gibt ihre Kleidung auf. Das für eine Kommissarin recht schrille Outfit, die kräftigen Farben, Rot, Grün, Blau, der tiefe Ausschnitt – daran kann man sich semiotisch abarbeiten. Extrovertiert? Kumpelhaft? Sexy? Selbstbewusst? Fordernd? Dass die Seelen-Stripperin Kunzendorf, die ihr Sex-Appeal in ihren Rollen bislang mit narzisstischen Untertönen ausspielte, hier mit fröhlich wuchtiger Vitalität und mit lauten Stiefeln vorprescht statt mit zerbrechlicher Sinnlichkeit – das überrascht.
Ob man Meys Styling (soziologisch) wörtlich nehmen darf, wird sich vielleicht zeigen, wenn man mehr von ihr erfährt. Diese Trägerin Woolworthiger Billig-Jeans ist sicher eine gute Kommissarin, ein echter Kumpel, eine Frau zum Pferdestehlen, aber als Stil-Beraterin die falsche Adresse. Da weiß sich der einsame Wolf Frank Steier stilvoller zu kleiden. Dunkler Anzug, dunkler Mantel, auffällig unauffällig. Der nicht mehr teamfähige Kommissar scheint einige Probleme zu haben. Mit dem Alkohol, mit sich selbst, mit dem Job. „Sie haben offenbar ein Nähe-Problem“, sagt ihm Mey ins Gesicht. Auch Steier kann direkt sein: „Sie haben offenbar kein Nähe-Problem.“ Und er kann verletzend direkt sein: „Sie gehen mir mit Ihrem Gutmenschentum und Ihrer Helferkacke so was von auf den Geist. Wenn Sie den Menschen wirklich helfen wollen, dann machen Sie doch ein Nagelstudio auf. Davon verstehen Sie wenigstens was.“ Im Verlauf des Falles fängt sich Steier und Joachim Króls Spiel lässt durchblicken, dass er zunehmend Gefallen findet an seiner engagierten, forschen Kollegin.
Die Einführung eines neuen „Tatort“-Teams hat seine eigenen Gesetzmäßigkeiten. Autor-Regisseur Lars Kraume und der HR haben gute Entscheidungen getroffen bei „Eine bessere Welt“: die Charaktere dominieren über den Krimi, der sich nicht in einem üblichen Whodunit ergeht; die Kommissare definieren sich über ihr So-Sein, ihre Physis, ihr Verhalten zum Fall, anstatt zum Einstand große, biografische Fässer aufzumachen; Buch und Regie finden eine gute Mischung aus handfester Bedrohung, Spannung und atmosphärischen Zwischentönen. Die manchmal etwas zu markanten Verbalrepliken, die die Gegensätzlichkeit der Ermittler auf den Punkt bringt, sind der Reihen-Exposition geschuldet. Das wird sich mit der Zeit verlaufen. Die Zeit heilt alle Überpointierung. Wie zuletzt auch Tukurs Debüt „Wie einst Lilly“ zeigt der neue HR-„Tatort“, dass er nicht nur auf zwei unserer besten Schauspieler setzen kann, sondern dass der Hessische Rundfunk auch in den Geschichten das Besondere sucht. Der Mord in den ersten fünf Minuten ist Schnee von gestern. (Text-Stand: 8.5.2011)