Ein Triebtäter geht um in Göttingen. Der Mann lauert Frauen auf und zwingt sie zu sexuellen Handlungen. Da er seine Opfer bisher am Leben ließ, überkommen Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) Zweifel, ob die tote junge Frau, die an einem Waldrand gefunden wurde, auf das Konto des „Wikingers“ geht, wie die Öffentlichkeit den Vergewaltiger nennt. Und so ermittelt sie im Umfeld des Opfers: Jene Studentin hat als Flüchtlingshelferin gearbeitet, gab Deutsch-Kurse für Asylanten, hatte einen Freund, Elmo (Leonard Carow), himmelte aber den syrischen Flüchtling Munir Kerdagli (Eidin Jalali) an, der in Deutschland Physik studiert, und sie wohnte mit Jelena (Mala Emde), einer anderen Studentin, in einer WG. Über diese Kontakte stößt die Kommissarin auf ein Fußballspiel mit Geflüchteten, das mit einem Welt-Rekord ins Guiness-Buch eingehen soll. Hier gibt es einige Männer, weiße (Sascha Alexander Gersak) wie farbige (Castro Dokyi Affum), von denen sie ghörig genervt ist. Derweil geht Anais Schmitz (Florence Kasumba) neuen Spuren des „Wikingers“ nach. Und dann gibt es Ärger. Da der Chef (Luc Feit) einen Massen-DNA-Test auf dem Fußballplatz nicht genehmigt, bittet Lindholm den Mann ihrer Kollegin (Daniel Donskoy) darum, in Holland eine erweiterte Herkunftsanalyse vom Tatort anzufordern; dieses Verfahren ist in Deutschland verboten. Für einen „Treffer“ sorgt wenig später dann allerdings eine ganz legale DNA-Analyse.
Zum zwanzigjährigen Lindholm-Jubiläum wünschte sich die NDR-Redaktion vom mehrfach preisgekrönten Autor Daniel Nocke eine Geschichte mit gesellschaftlichem Zündstoff. Der musste ob des „Tabuthemas“ erst mal schlucken und entwickelte dann ein vielschichtiges Krimi-Drama, ohne allzu offensichtliche Themenfilm-Ambitionen. „Die Rache an der Welt“ ist angelehnt an einen Fall in Freiburg, den Mord an einer Studentin, den ein afghanischer Geflüchteter 2017 verübt hatte. Dieser Mord heizte damals die Flüchtlingsdebatte an. Der NDR-„Tatort“ nimmt den Ball auf und rekurriert auf die gesellschaftlichen Haltungen, die sich bei einem solchen Fall zwangsläufig ergeben. Natürlich muss gegen einen verdächtigen Flüchtling genauso selbstverständlich ermittelt werden wie gegen einen Einheimischen. Aber es gibt soziale Zwänge, so sind migrantische Straftäter keine Werbung für eine liberale Asylpolitik, und es gibt persönliche, oft unterbewusste Ressentiments, die bei den gestressten Kommissarinnen zum Ausdruck kommen. Lindholm könnte manches Mal ausrasten. Ihre dunkelhäutige Kollegin wirkt zwar kühler, kann es dennoch nicht stehen lassen, wenn ein Zeuge von „einer dunklen Ausstrahlung“ oder „Alles schwarz bis auf das Trikot“ spricht. Das gesellschaftliche Reizthema spielt sich klugerweise vornehmlich auf der subjektiven Ebene der Figuren ab, auf der sich die Erfahrungen spiegeln, die sie bei ihren Befragungen machen. Die Situationen triggern Lindholms Vorurteile an. Und so ist die Kommissarin mal Feministin, mal Rassistin. Doch die Welt, der Fall, die Technik funktionieren anders als gedacht. Ein simpler Krimi-Twist sorgt am Ende für diese Meta-Erkenntnis.
Und es gibt ein Leben jenseits der Ermittlungen. Das, was vor allem auch für diesen „Tatort“ einnimmt, ist die Sorgfalt, mit der den Episodenfiguren eine Geschichte gegeben wird. Nocke lässt den Zuschauer in die Beziehungen blicken. Wenn beispielsweise die Mitbewohnerin der Ermordeten ein konspiratives Treffen mit dem Hauptverdächtigen in die Wege leitet, anstatt die Polizei zu verständigen, öffnen sich neue Perspektiven, auch über den Krimi hinaus. Sie ist sich sicher, dass jener Munir nie und nimmer einen Mord begehen könnte. „Ich schlafe mit ‘nem ganzen Asylantenheim, wenn ich Unrecht habe“, diesen Satz schleudert sie Lindholm bei der ersten Befragung ins Gesicht. Dass sie (oder eher ihr Unterbewusstsein?) ausgerechnet dieses Bild gewählt hat, erklärt sich auf der Zielgeraden des Films. Mala Emde spielt das in ihrer unnachahmlichen Art; natürlich und doch verdichtet und geheimnisvoll bleibt sie beim Alltag der Figur, ohne sich von der Krimisituation irritieren zu lassen. Dafür sorgt bereits Nocke durch einen Begrüßungssatz wie „Ich weiß, wer Sie sind, Elmo hat mich angerufen.“ Und ihre Sätze bleiben markant und beiläufig dahingesagt zugleich („Machen Sie mich nicht zum Nazi“). Aber auch die Kommissarinnen pflegen einen coolen Umgang miteinander: klar und sachlich bei der Tatortbegehung, professionell in der Interaktion und beim Ermitteln, kein Zickenkrieg, obwohl es durchaus Spannungen zwischen den Frauen gibt. Und kein Dialogsatz ist zu viel; auf diese Weise bleibt auch noch etwas für den Zuschauer zu entdecken.
Spezialist für Unausgesprochenes und kommunikative Zwischentöne ist bekanntlich auch Regisseur Stefan Krohmer, der mit Nocke fünfzehn, zum Teil preisgekrönte Langfilme gemacht hat. Dadurch dass die Beziehungen der Episodenfiguren trotz zweier sehr dominanter Kommissarinnen neben den Ermittlungen weiterlaufen, kommt auch der Drama-Regisseur Krohmer nicht zu kurz bei „Die Rache an der Welt“. Alle Schauspieler, ob Hauptrolle, ob Minirolle, überzeugen. Selbst kurze Szenen besitzen über ihre narrativen Funktionen hinaus etwas Besonderes: ein Gespräch zwischen Lindholm und ihrem Chef, ein tausendfach gesehenes Krimi-Interaktions-Stereotyp, wirkt bei Krohmer & Nocke eher frisch und originell (er duzt die Kommissarin, sie siezt zurück); auch die Szenen, in denen Lindholm von fremdländischen Machos bedrängt wird, sind klischeefrei – und vor allem kurz! Und die Auflösung der Krimihandlung am Ende verzichtet auf eine „amerikanische Schlussszene“, in der die Ermittler dem gelösten Fall mehr oder weniger entspannt begegnen. Krohmer und Nocke bevorzugen indes einen realistischen Schluss. Man geht behutsam raus aus der Szene. Ein universaler sinnhafter Schlusssatz. Schließlich ein Standfoto, das den Zuschauer ohne gutmenschelndes Moralisieren zum Innehalten einlädt.