Tatort – Die Kalten und die Toten

Becker, Waschke, Böwe, Döhler, Fabian Busch, Torsten C. Fischer. Minusgrade in Berlin

Foto: RBB / Aki Pfeiffer
Foto Martina Kalweit

Ein Date zu dritt war das letzte Abenteuer der Medizinstudentin Sophia Bader. Nach der Identifizierung ihrer Leiche führt die Spur zu Dennis und Julia. Ein junges Paar, das sich wenig zu sagen hat. Rubin (Meret Becker in ihrem vorletzten Berlin-Tatort) und Karow (Mark Waschke) staunen nicht schlecht: Der Aktenberg von Dennis Ziegler verzeichnet mehrere Sexualdelikte, Brandstiftung und Körperverletzung. Kann es so einfach sein? Nein. Auch dieser „Tatort“ dauert 90 Minuten. In dieser Zeit pflegt „Tatort – Die Kalten und die Toten“ (Schiwago Film) das Klischee von Berlin als Babylon der Trieb-Getriebenen. Kein Platz für Wärme, Gefühl und Verbindlichkeit. Der verlässlichste Kompass für die Suche nach einem Rest von Normalität sind Rubin und Karow. Ausgerechnet Mark Waschke, sonst eher in der Rolle des kalten Kombinierers geübt, fungiert in der wendungsarmen, aber sehenswerten Psychostudie als Seismograf für kaputte Seelen. Schwieriger Part, fein gespielt.

„Warum seid ihr denn hier?“ Ja, schon komisch, dass der erwachsene Sohn mal wieder zuhause pennt. Aber Dennis (Vito Sack) hat gute Gründe. In der eigenen Wohnung war Party und jetzt ist da viel Blut. Mama soll es wegmachen. Macht Mama. Doris Ziegler (Jule Böwe) macht alles, was Sohn und Mann ihr sagen. Während die Polizistin in Abschnitt 45 Streife läuft, betrügt sie Ehemann Claus (Andreas Döhler) mit Hanne (Elisabeth Baulitz) aus dem Tauchclub. Die Ehe der Zieglers hält nur, weil es immer wieder beide braucht, um dem Sohn den Hals aus der Schlinge zu ziehen. Jetzt zum Beispiel. Bevor die Fährte des Mordfalls Sophia Bader zu Dennis führt, sitzen Rubin und Karow dem Elternpaar des Opfers gegenüber. Auch die Baders (Andreja Schneider, Rainer Reiners) wollen der Wahrheit nicht ins Auge sehen. Für die Biederkeit der beiden müssen visuell die üblichen Holzpaneele in der Wohnstube herhalten. Die Dialoge in diesem Holzkasten aber sind perfekt geschnitzt. Rubin will den Beinahe-Rentnern noch erklären, was eine Dating-App ist, da schickt Karow schon mal die unverbindliche sexuelle Verabredung als normalen Programmpunkt einer Berliner Studentin ins Rennen. „Ja, dann kann es ja gar nicht unsere Tochter sein“, meint die Mutter.

Tatort – Die Kalten und die TotenFoto: RBB / Aki Pfeiffer
Nicht nur in Berlin ist Winter, auch in einer Familie herrscht Eiszeit. Meret Becker, Mark Waschke und Jule Böwe

Wenig später erscheinen Dennis Ziegler und seine Freundin Julia (gut: Milena Kaltenbach) ungefragt bei der Kripo, erzählen von einer harmlosen Nacht zu dritt und verlegen sich dann auf Aussageverweigerung. Der Fall wird zu einem Rennen gegen die Wand. Die Hauptverdächtigen sind Kinder, die ein eigenständiges Leben nie gelernt haben. Die Eltern kümmern sich um den Rest. Durchaus deutsche Realität, in diesem Fall dramatisch zugespitzt. Die Zieglers kümmern sich um die Vernichtung von Beweisen, die Baders um die Unantastbarkeit ihrer Illusion von der tüchtigen Tochter, die Mutter von Julia um ihr kleines Enkelkind. Regisseur Torsten C. Fischer liefert glaubhafte Milieustudien. Der Tauchclub der Zieglers ist das kleine Paradies am Rande Berlins. In der Baderschen Gärtnerei gibt es immer genug zu tun, um nicht ins Stolpern zu geraten. Und in der Hochhausbutze von Julias Mutter (Florentine Schara) fängt ein Traumfänger böse Geister ab. Der Teufel vom Engelbecken, einem Berliner Rest des Luisenstädtischen Kanals und Fundort der Leiche, muss da irgendwie durchgerutscht sein. Um all die solid hochgezogenen Bollwerke einzureißen, setzen Karow und Rubin auf Schocktherapie. Rubin konfrontiert Mutter Bader mit Mutter Ziegler. Karow setzt Vater Ziegler mit dessen Seitensprüngen unter Druck. Zwischendurch trinken die Ermittler Bier aus der Flasche und schauen anderen beim Tanzen zu.

Soweit das gewohnte Bild. Die Kipppunkte der Geschichte warten mit wenig nachvollziehbaren Attraktionen auf. Hier nochmal ein düsterer Swingerclub als Location einer Aussprache. Dort der Brandanschlag eines Rächers, der bis dato nichts mit Rache am Hut hatte. Ein wenig wirkt das, als vertraue man der Erzählung nicht ganz und behelfe sich mit einer Prise exotischer Szenerie. Diese Umwege sind nötig, weil im „Tatort – Die Kalten und die Toten“ ein sonst beliebig ausbaubares Erzählmoment wegfällt. Der vermeintliche Täter kennt keine Empathie, er zweifelt nicht, er verzweifelt nicht. Er ist höchstens sauer, dass ihn keiner mit Auto vom Knast abholt. Dennis Ziegler fällt als Motor der Geschichte weg. Nicht einfach – auch für den Zuschauer, der hier sowieso keinen Menschen außer die Kommissare mögen kann. Neben Meret Becker in ihrem vorletzten Fall überzeugt Mark Waschke, der mit kleinen Gesten Karows Zerrissenheit zwischen Neugier und Abscheu für diese kaputte Welt glaubhaft rüberbringt. Das Back-Up für die Ermittlungen in der Stadt liefert der neue Kollege Malik Aslan (Tan Caglar). Aslan sitzt im Rollstuhl, macht aber gleich bei der ersten Begegnung mit Rubin klar, dass ihn das nicht behindert. Tatsächlich stimmt die Chemie und das Trio erledigt, ohne viel zu diskutieren, pragmatisch die nächsten Schritte der Ermittlung.

Tatort – Die Kalten und die TotenFoto: RBB / Aki Pfeiffer
Was ist in der verhängnisvollen Nacht genau passiert? Vito Sack und Milena Kaltenbach in „Tatort – Die Kalten und die Toten“

Mit seinem 15. Tatort (der 16. ist mit dem Dortmund-Team abgedreht) verfilmte Torsten C. Fischer einen Fall von großer Traurigkeit, ohne übermäßig auf die Tränendrüse zu drücken. Höchstens Nina Rubin sinkt mal mit dem Kopf auf den Tresen, weil sie sich so sehr nach „was Lustigem“ sehnt. „Tatort – Die Kalten und die Toten“ nach einem Drehbuch von Markus Busch ist nicht lustig und auch nicht sehr spannend. Der Fall erzählt von Menschen, die Hilfe gebraucht hätten, sie aber nie bekamen. Es sind Großstadtschicksale, aus denen sich kein unterhaltsamer Krimi schnitzen lässt. Passend zum Thema im Winter gedreht, experimentiert Fischer weder mit Kamera noch mit auffallendem Soundtrack. Der Fall konzentriert sich ganz auf seine Figuren. Das Ermittlerteam, das sich im letzten Fall selbst auf ein sexuelles Abenteuer eingelassen hat, nimmt sich am Ende in den Arm und einer sagt Entschuldigung.

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Reihe

ARD

Mit Meret Becker, Mark Waschke, Jule Böwe, Tan Caglar, Andreas Döhler, Vito Sack, Milena Kaltenbach, Florentine Schara, Elisabeth Baulitz, Heinrich Berger, Andreja Schneider

Kamera: Theo Bierkens

Szenenbild: Jörg Prinz

Kostümbild: Anne-Gret Oehme

Schnitt: Heike Parplies

Musik: Warner Poland

Redaktion: Josephine Schröer-Zebralla (rbb), Birgit Titze (Degeto)

Produktionsfirma: Schiwago Film

Produktion: Martin Lehwald, Marcos Kantis

Drehbuch: Markus Busch

Regie: Torsten C. Fischer

Quote: 9,01 Mio. Zuschauer (27,2% MA)

EA: 14.11.2021 20:15 Uhr | ARD

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