Franz Leitmayr (Udo Wachtveitl) ist seltsam berührt, und er weiß nicht, wie er sich verhalten soll gegenüber einem alten Freund, den er offenbar längst aus seiner Erinnerung gelöscht hatte. Es war 1984, ein ganz besonderer Sommer, in dem er und Mikesch Seifert (Andreas Lust) ihren Summer of Love erlebten, an der Atlantikküste in Portugal – und beide hatten ein gemeinsames Objekt des Begehrens. Nicht nur Mikesch, der damals mit Franz ein Hostel für Surfer aufmachen wollte, auch eben jene Frida (Ellen ten Damme) leben längst wieder in München. Ein Messerstich führt das Trio wieder zusammen: Mikesch ist von einem Junkie schwer verletzt worden. Er und Frida hatten sich nie aus den Augen verloren, aber es kamen und gingen andere Partner. Für Franz wäre so ein Leben nichts gewesen, schon vor 35 Jahren wollte er Frida nicht mit einem anderen teilen; deshalb hat er damals den Kontakt zu beiden abgebrochen. Und er ging ohne ein Wort. Wahrscheinlich fühlt er sich noch immer ein wenig schuldig, denn obwohl sich Mikesch mehr als merkwürdig benimmt und nicht nur Ivo Batic (Miroslav Nemec) ihn bald für einen „windigen, kleinen Amateurdealer“ hält, lässt ihn der alte Freund laufen – und nimmt ihn beim Wort: „24 Stunden, dann sprechen wir über alles.“ Sie werden sprechen. Am Telefon. Denn Mikesch wird sich nicht stellen. Dieser Mann will endlich etwas bewegen. Er macht Versprechungen, seinem alten Freund, seinen neuen Kumpels, Robert (Justus Johanssen) und Heinrich (Michael Tregor), seiner Tochter Maya (Luise Aschenbrenner). Wie damals hat er einen Traum – doch kommt er wirklich voran?
Der tragische Held in „Die ewige Welle“ ist leidenschaftlicher Surfer. Die Eisbachwelle im Englischen Garten, „eine künstlich angelegte Stromschnelle und eine etwa halbmeterhohe stehende Welle“ (Wikipedia) für Kanuten und Flusssurfer, sorgt nicht nur zu Beginn des Films für sportive Action-Bilder, sondern sie bildet auch die Metapher für den 81. „Tatort“ des Duos Leitmayr/Batic. Auch sie wurde geschaffen aus dem Lebensgefühl der 1980er Jahre – ein bisschen wild, ein bisschen Schickimicki und sehr viel Fun-Faktor. Die Eisbachwelle ist „ein großes Bild für den Traum von Freiheit mitten in einer deutschen Großstadt“, so die Drehbuchautoren Alex Buresch und Matthias Pacht. „Und gleichzeitig ist da die Absurdität einer stehenden Welle: Alles ist in Bewegung und trotzdem kommt nichts vom Fleck.“ Genau so lässt sich auch das Leben von Wellenreiter Mikesch Seifert beschreiben. Dieser Mann ist immer in Bewegung, hat ständig was am Laufen und immer gibt es noch was Wichtiges zu erledigen. Er ist so umtriebig, dass er darüber seine Schmerzen vergisst und nicht wahrhaben will, dass er in Lebensgefahr schwebt. In Aussicht, so glaubt er, steht ein ganz großer Coup. Doch tatsächlich tritt er nur auf der Stelle. Er kann seine Träume nicht loslassen, lebt noch immer ein vermeintlich junges Surferleben, sein Franz heißt im Jahr 2019 Robert, ist Mitte zwanzig – und auch er würde am Ende am liebsten aussteigen aus Mikeschs Traumwelt. Auf der Zielgeraden gibt es einen Autounfall. Mikesch überlebt, und er läuft weiter.
„Für mich war der große Reiz, einen Außenseiter in den Mittelpunkt zu stellen, der sein freies Leben ohne festen Job, ohne Karriereplanung und ohne klassische Familienbildung, konsequent und frei von Opportunismus lebt. Die Tragik und der hohe politische Wert dieser Geschichte liegt darin, dass die heutige Gesellschaft diese Art von freiem Leben nicht mehr existieren lässt. Der Mensch, der anders lebt, wird durch existenziellen Druck und Gentrifizierung seiner Wohngegend, aus dem sozialen Zusammenhang herausgedrängt.“ (Andreas Kleinert, Regie)
Der „Tatort – Die ewige Welle“ kommt ohne den obligatorischen Mord in den ersten zehn Minuten aus – und der, der ohne erkennbare Tötungsabsicht zu Beginn das Messer zückt, wird die zweite Hälfte dieses Krimi-Dramas – Betonung auf Drama – nicht erleben. Es ist ein typischer Andreas-Kleinert-Film, eine stilsicher inszenierte Tragödie, in der Vergangenheits-Bewältigung und Trauerarbeit nah beieinanderliegen. Die Handlung folgt der Mentalität der Episoden-Hauptrolle, sie verläuft entsprechend sprunghaft, und die Spannung resultiert aus dem Mitgefühl mit diesem Traumtänzer, der zu Beginn einem Junkie und später dem Leben ins Messer läuft. In jungen Jahren ging er noch als Freigeist durch, jetzt im Alter und in Zeiten, in denen ein anderer Zeitgeist weht, wirkt ein solcher Lebensentwurf, geprägt von Verlusten und verpassten Chancen, nicht mehr so sexy. Aber auch moralisch befindet sich jener Mikesch ganz unten. Seit Jahren enttäuscht er die, die ihm am nächsten stehen, er hat keinerlei Skrupel, Schmerzmittel als Ersatzdroge an Junkies zu verticken, und er lügt selbst wie ein Süchtiger. Sinnlose, „falsche Bewegungen“ sind die Spezialität von Andreas Lust als Schauspieler. Seit zehn Jahren kennt man sein Gesicht. In Benjamin Heisenbergs Kinofilm „Der Räuber“ verkörperte er auch so einen, der nicht zurückstecken kann: ein Räuber, ein Marathonläufer, ein Süchtiger. Männer, die ihre existenz-bedrohenden Konflikte mit sich selbst ausmachen, sind seine Spezialität („Davon willst du nichts wissen“). Er gab einen Polizisten mit einem Gewaltproblem („Polizeiruf 110 – Morgengrauen“), verkörperte einen Nazi-Sadisten zum Fürchten in „Die Freibadclique“, und zuletzt in dem außergewöhnlichen „Tatort“-Drama „Für immer und dich“ schlitterte er wie jetzt bei Kleinert ähnlich halt- & bedenkenlos ins Verderben – in seinen Armen eine Minderjährige. Als der Mann mit dem Loch im Bauch liefert Andreas Lust mal wieder eine psychophysische Glanzleistung ab.
Der bürgerliche Gegenentwurf wirkt dagegen vergleichsweise weniger aufregend: zu erzählen, dass auch Kommissare ihre Vergangenheit haben, sich verändern und dass sie nicht als Langweiler geboren werden, ist an sich eine gute Idee. Aber es es fällt einem als Zuschauer nicht leicht, diese Geschichte zu glauben. Außerdem ist es für einen Schauspieler fast unmöglich, biographische Brüche seiner Figur mal eben so zwischen Krimi und der Vita der Episoden-Hauptfigur stimmig zu spielen: Was Udo Wachtveitl als Reaktion auf den charismatisch-kaputten Anti-Helden hier verkörpern muss, wirkt behauptet – nimmt man den Leitmayr der letzten Jahre als Maßstab. 2001 hat man seiner Figur die Leidenschaft noch abgenommen: Für „Im freien Fall“ mit Jeanette Hain als Objekt der Begierde gab’s mehrere Grimme-Preise! 28 „Berufsjahre“ kennt man diesen Kommissar nun schon, 80 Filme lang, und nie zuvor hat man etwas gehört von seiner wilden Phase. In Zeiten, in denen horizontal erzählte Qualitätsserien Standards setzen in Bezug auf die Psychologie von Geschichten, empfindet man diese Episode des Lebens als das, was sie ist: ausgedacht. Reihen-Figuren unvermittelt etwas anzudichten, das funktioniert nur selten (zuletzt verhob man sich bei Oliver Mommsens Stedefreund). Dass Leitmayr mit seiner einstigen Traumfrau gemütlich im Bett landet, das ist zwar ebenso wenig plausibel, daraus ergibt sich allerdings eine sehr unterhaltsame Szene. Offen bleibt im Übrigen die Frage, ob Leitmayr ein Kind mit Frida hat.