Während sich die „Tatort“-Teams anderswo auch schon mal mit Künstlichen Intelligenzen oder zumindest mit dem organisierten Verbrechen rumschlagen, geht es in den Filmen aus dem Südwesten vergleichsweise beschaulich und alltäglich zu. Die Geschichten sind selten spektakulär, was sich meist auch in den Umsetzungen widerspiegelt. Das mag zwar dem Schauplatz angemessen sein, aber der SWR hat mit seiner preiswürdigen Serie „Höllgrund“ bewiesen, dass der Schwarzwald keineswegs zwangsläufig für kriminalistische Schonkost stehen muss. Regisseurin des neunten Falls für Tobler und Berg (Eva Löbau, Hans-Jochen Wagner) war Franziska Schlotterer; schon ihre letzte Arbeit mit dem Duo („Was wir erben“, 2021) war eher bedächtig inszeniert. Das Buch zu „Die Blicke der Anderen“ ist von Bernd Lange, der auch den 2017 ausgestrahlten Freiburger Auftakt („Goldbach“) geschrieben hat.
Die Handlung ist erneut in einem überschaubaren Biotop angesiedelt: trägt sich größtenteils in einer Vorortsiedlung zu. Die Einführung beginnt harmlos mit sommerlichen Impressionen und endet mit einem Schrei aus dem Off, als eine Mutter ahnt, dass ihrem Sohn Gerd etwas Furchtbares zugestoßen ist. Im Schlafzimmer liegt zwar keine Leiche, aber das blutbesudelte Ehebett lässt keine Zweifel an einer Gewalttat; der kleine Enkel ist ebenfalls verschwunden. Weil die meisten Morde, wie Krimifans wissen, Beziehungstaten sind, ist die Ehefrau die erste Verdächtige, zumal sich ihre Ausflüchte dank der Bilder aus einer Überwachungskamera an der Abbiegung zur Siedlung recht bald als Lüge entpuppen: Sandra Vogt (Lisa Hagmeister) hat die Nacht keineswegs daheim verbracht; wo sie stattdessen war, will sie aber nicht sagen.
Sehr viel mehr hat Lange, zuletzt unter anderem Chefautor der herausragenden ARD-Serie „Das Netz – Spiel am Abgrund“, zunächst jedoch nicht zu bieten, selbst wenn sich schließlich herausstellt, dass Sandra eine Affäre hat; den Namen ihres verheirateten Geliebten gibt sie ebenfalls nicht preis. Als Täter käme noch Gerds früherer Kompagnon (Niels Bruno Schmidt) in frage, die beiden hatten eine heftige Auseinandersetzung über die Höhe der Abfindung. Es ging dabei um drei Millionen Euro; Menschen sind schon, wie Berg nüchtern feststellt, wegen weitaus geringerer Summen ermordet worden. Da die Leichen von Mann und Sohn unauffindbar bleiben, tappt die Polizei komplett im Dunkeln.
Man kann es auch anders sehen:
„Ihr neunter Fall gehört eindeutig zu den besseren. Er hält bis zum bitteren Ende die Spannungskurve hoch und die Täterfrage offen. Der erzählerische Fokus auf Sandra Vogt und die Reaktionen ihres Umfelds ermöglichen eine spannende Analyse der Frage: Wie sieht ‚richtige“ Trauer aus. Unvorhersehbar, stark gespielt und einfühlsam erzählt.“ (TV Spielfilm, Nr. 23/2022)Wenn man den Film nicht an einer Plot-orientierten Spannungserwartung misst, sondern berücksichtigt, was er ist bzw. sein will, ein Krimi-Drama mit der Betonung auf Drama, dann kann man diesem „Tatort“ auch gut und gerne 4,5 Sterne geben. Das ergibt: 3,5 Autor-Sterne vs. 4,5-Herausgeber-Sterne = 4 Sterne
Das Thema des Films ist ohnehin ein anderes, wie der Titel andeutet: Aus Sicht des direkten Umfeldes besteht an der Schuld von Sandra kein Zweifel. Die Mutter des mutmaßlichen Mordopfers (Ruth Wohlschlegel), hat ihre Schwiegertochter noch nie leiden können; für sie war es nur eine Frage der Zeit, bis Gerd seine Frau wieder „vom Hof jagen“ würde. Sandra sei hier „nie richtig angekommen“, sagt ihr Schwiegervater gegen Ende; er ist der einzige, der sich nicht das Maul über sie zerreißt. „Was die Leute so reden“ wäre daher ein treffenderer Titel gewesen, denn auch die betagte ehemalige Grundschullehrerin (Margot Gödrös) im Haus nebenan, die alle Einheimischen kennt, weil sie einst in ihrer Klasse waren, findet keine freundlichen Worte für die Nachbarin, die nun mal „nicht von hier“ sei; Sandra ist die einzige Erwachsene, die keinen Dialekt spricht. Dass die alte Frau Gentner minutiös notiert hat, wann es gegenüber in der Tatnacht laut wurde, ist nur bedingt hilfreich: Sie sei im Grunde blind und taub, stellt Tobler etwas respektlos fest. Und dann ist da noch der ältere Sohn (Sean Douglas) des Ehepaars, der von seinen Eltern bloß als „der Vater“ und „die Mutter“ spricht.
Nicht eine dieser Personen ist sympathisch. Auch Schlotterers distanzierte Inszenierung hat zur Folge, dass niemand wirklich Anteilnahme weckt; der gemeuchelte Gatte (Daniel Lommatzsch) entpuppt sich in den Rückblenden als egozentrischer Choleriker, dem selbst die Witwe kaum eine Träne nachweint. Tobler und Berg erledigen ihre Arbeit routiniert und geduldig, wirken dadurch aber eher bürokratisch als empathisch, auch wenn Berg nicht versteht, warum Sandra den Namen ihres Geliebten nicht preisgibt. Erst später zeigt sich, dass das gar nichts geändert hätte. Tatwaffe, Motiv, Gelegenheit: Alles spricht gegen sie. Die unauffällige Bildgestaltung und die Dialoglastigkeit geben dem Film einen realitätsnahen und somit beinahe dokumentarischen Anstrich. Die polizeiliche Detailarbeit ist tatsächlich interessant, aber wirklich fesselnd ist dieser „Tatort“ nicht. (Text-Stand: 15.10.2022)