Tatort – Des Teufels langer Atem

Axel Prahl, Liefers, Riedle, Hourmazdi, Wettcke, Meletzky. Alle für einen, alle für Thiel

Foto: WDR / Thomas Kost
Foto Rainer Tittelbach

Thiel hat einen völligen Blackout. Tags zuvor hat sich der Kommissar die Kante gegeben. Das ist so ziemlich das Einzige, was er noch weiß. Und er hat Erscheinungen, kurz aufflackernde Erinnerungsfetzen, die ihn verunsichern. Umso mehr, als er bald auch noch in einen Mordfall verwickelt ist. In „Des Teufels langer Atem“ (Molina Film), dem 40. „Tatort“ aus Münster, gerät nun Frank Thiel in massive Erklärungsnot. Autor Thorsten Wettcke stellt dabei das gängige Der-Verdächtige-gegen-alle-Muster clever auf den Kopf und macht diesen besonderen Fall zu einem würdigen Jubiläums-Film. Auch sonst ist dieser WDR-„Tatort“ ein Film aus einem Guss, was Geschichte, Inszenierung und Besetzung angeht. Es ist eine kühne, wilde Konstruktion um beliebte narrative Mythen wie Amnesie, Todessehnsucht oder das perfekte Verbrechen. Dramaturgisch und filmisch besonders auffallend: Die Ermittlungen, die Rekonstruktion der Geschehnisse in Thiels verhängnisvoller Nacht, erfolgen größtenteils auf der Bildebene. Auch die markante visuelle Gestaltung insgesamt passt sich ein in den New Look, den der jahrelang eher etwas bieder daherkommende „Tatort“ aus Münster seit einiger Zeit konsequent verfolgt. Und endlich nutzen die Fälle auch ihr tragisch-dramatisches Potenzial, ohne dabei die lieb gewonnenen Eigenarten der Charaktere aufzugeben.

„Wo sind wir? Was machen wir hier?“ Frank Thiel (Axel Prahl) hat einen völligen Blackout. Tags zuvor hat sich der Kommissar die Kante gegeben. Das ist so ziemlich das Einzige, was er noch weiß. Grund für den Exzess: Bei seinem Vadder Herbert (Claus D. Clausnitzer) wurde von seiner behandelnden Ärztin (Kim Riedle) ein irreparabler Gehirntumor festgestellt. Mit Professor Boerne (Jan Josef Liefers) im Schlepptau versucht Thiel, Licht ins Dunkel zu bringen. Er erinnert sich an seinen Drogenkurierdienst für den sterbenskranken Vater, kein Schimmer aber davon, wie er in das Hotel kam, an dessen Bar er sich ohnmächtig soff und in dem er am Morgen schwer verkatert erwachte. Thiel hat Erscheinungen, kurz aufflackernde Erinnerungsfetzen, die ihn verunsichern. Umso mehr, als er bald auch noch in einen Mordfall verwickelt ist. Ein Ex-Kollege aus Thiels Zeit in Hamburg, der seine Frau im Suff ermordet hat, wurde in einem Wald ganz in der Nähe von Münster erschossen. Der Mann, der vor zwanzig Jahren zweifelsfrei von Thiel überführt wurde, hat immer wieder seine Unschuld beteuert. Was haben der Mord mit Thiels Filmriss zu tun? Oder hat hier der Zufall die Hand im Spiel? Kommissarin Kröger (Banafshe Hourmazdi) jedenfalls hat ein Auge auf Thiel. Dieser rekonstruiert weiter die letzte Nacht – und es wird ihm zunehmend mulmig dabei.

Tatort – Des Teufels langer AtemFoto: WDR / Thomas Kost
Der Schock! Eine solche Botschaft zu überbringen ist nicht schön: Dr. Kühn (Kim Riedle) ist sich völlig sicher, dass der Tumor im Kopf von Thiel Senior irreparabel ist.

Welcher Kommissar, welche Kommissarin im deutschen Fernsehen stand nicht schon mal unter Mordverdacht? In „Des Teufels langer Atem“, dem 40. „Tatort“ aus Münster, gerät nun Thiel in massive Erklärungsnot. Autor Thorsten Wettcke („Walpurgisnacht – Die Mädchen und der Tod“), zum fünften Mal für den westfälischen Schmunzelkrimi im Einsatz, stellt dabei ein gängiges Muster clever auf den Kopf und macht diesen besonderen Fall zu einem würdigen Jubiläumsfilm: Während es in anderen dieser Held-unter-Verdacht-Krimis häufig zu einem Kamikaze-Solo in eigener Sache kommt, bei dem allenfalls noch der Partner dem Verdächtigen die Stange hält, ermittelt sich Thiel um Kopf und Kragen und wird dabei immer verzweifelter; es kullern sogar Tränen. In dem Film von Francis Meletzky („Aenne Burda – Die Wirtschaftswunderfrau“) trägt dagegen das gesamte Team, Kripo sowie Rechtsmedizin, etwas zu Thiels Rettung bei. Schrader (Björn Meyer) recherchiert den alten Fall und stellt dem derangierten Kommissar seinen Wagen zur Verfügung. Sein Vater legt sich emotional ins Zeug, Staatsanwältin Klemm (Mechthild Großmann) setzt alle Hebel in Bewegung und vergisst dabei sogar das Kettenrauchen, Silke Haller wird zur Einbrecherin, geht mit einer Kollegin (Judith Goldberg) auf Kosten ihres Frauenverächter-Chefs fremd, und sogar der werte Herr Professor will unbedingt helfen, aber natürlich auch selber glänzen. „Mer stonn zesamme“, würde man in Köln sagen. In Münster führt dieser Teamgeist immerhin dazu, dass sich das sonst in liebevoller Frotzelei zugetane Paar am Ende mal wieder duzt.

Auch sonst ist dieser WDR-„Tatort“ ein Film aus einem Guss, was Geschichte, Inszenierung und Besetzung angeht. Es beginnt so, wie sich der Kommissar fühlt: Die Wirklichkeit eine Summe aus scheinbar zusammenhanglosen Momentaufnahmen. Nach und nach nimmt das Geschehen Konturen an, bleibt aber eine rätselhafte Ansammlung offener Fragen. „Der Zufall ist der einzige legitime Herrscher des Universums“, prahlt gerade noch Boerne mit seinem Wissen, da stoßen er und Thiel auf den Tatort im Wald, dort, wo jener Mann liegt, zwei Schüsse in der Brust, den der Kommissar einst ins Gefängnis brachte. „Ich war nicht hier“, versichert Thiel lautstark, räumt aber gegenüber Boerne ein: „Mit schießen ständig so merkwürdig bunte Bilder in den Schädel, die das Gegenteil behaupten.“ Außerdem erinnert sich Thiel, dass sich der Barmann in ein Wildschwein verwandelt habe. Da liegt der Verdacht einer Vergiftung nahe. Aber das Blutbild des Kommissars zeigt keine Auffälligkeiten… Es ist schon eine kühne, wilde Konstruktion um Krimimythen wie perfektes Verbrechen oder Todessehnsucht, die sich Wettcke da ausgedacht hat. Was so abwechslungsreich abstrus beginnt, muss logischerweise einigermaßen kompliziert enden (vorausgesetzt, man möchte den Zuschauer*innen keine surreale Auflösung anbieten). Des Pudels Kern wird auf der Zielgeraden entdeckt. Danach passen die Teilchen plötzlich zueinander, und es finden sich für alle Merkwürdigkeiten plausible Erklärungen. Dass diese verbal erfolgen müssen, mag ein kleiner Wermutstropfen sein. Dadurch aber, dass auch in dieser Lösungs-Sequenz der Teamgeist vorherrscht, ist der Aufklärungschor vielstimmig; außerdem wird dieser immer wieder von Rückblenden unterbrochen und dadurch gut & sinnlich verständlich gemacht.

Tatort – Des Teufels langer AtemFoto: WDR / Thomas Kost
„Als der Herrgott Talent regnen ließ, stand die Dame unter einem Schirm.“ Anfangs kann Boerne noch gut witzeln über Vivian Peters (Judith Goldberg), eine ehemalige Studentin. Doch später sieht der Herr Professor ziemlich alt aus. Schön auch, dass Silke Haller (ChrisTine Urspruch) ihrem Chef wieder mal in die Parade fahren darf.

Diese Talkrunde zum Schluss lässt sich im Übrigen gut verkraften, erlaubt doch die Geschichte dem Autor, zuvor vollständig auf die üblichen Ermittlerfragen zu verzichten. Und mehr noch: Die Ermittlungen, sprich: die Rekonstruktion der Geschehnisse jener Nacht, erfolgen größtenteils auf der Bildebene. Maßgeblich dazu bei tragen auch die farblich kräftigen Verfremdungseffekte, die die Erinnerungsbilder wie analoge Negativ-Abzüge erscheinen lassen. Aber auch die markante visuelle Gestaltung insgesamt, die Assoziationsmontagen zu Beginn des Films, der hohe und extrem gesättigte Schwarzanteil vieler Bilder, der Hang zu Großeinstellungen des leidenden Kommissars, passt sich ein in einen gewissen New Look, den der jahrelang eher etwas bieder daherkommende „Tatort“ aus Münster seit einiger Zeit konsequent verfolgt. Was früher die Ausnahme war, ist seit Filmen wie „Lakritz“, „Limbus“ oder „Rhythm & Love“ fast schon die Regel. Aber auch erzählerisch und dramaturgisch blieb der „Tatort“ Münster häufig unter seinen Möglichkeiten. Zu oft wurde allein die Typenkomik bedient, da wurde in Momenten mit tragisch-dramatischem Potenzial unverdrossen weitergewitzelt, wodurch man regelmäßig eine ernsthafte (zusätzliche) Tonlage verschenkte. Heute passen sich die Charaktere den Geschichten an, ohne ihre Eigenarten aufzugeben. Das ist ein Konzept mit Zukunft. Für die nächsten 40 Episoden?

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Reihe

WDR

Mit Axel Prahl, Jan Josef Liefers, ChrisTine Urspruch, Kim Riedle, Banafshe Hourmazdi, Claus D. Clausnitzer, Mechthild Großmann, Judith Goldberg, Björn Meyer, Artus Maria Matthiessen, Björn Jung

Kamera: Bella Halben

Szenenbild: Monika Nix

Kostüm: Anne Jendritzko

Schnitt: Heike Gnida

Musik: Andreas Weidinger

Redaktion: Sophie Seitz

Produktionsfirma: Molina Film

Produktion: Jutta Müller

Drehbuch: Thorsten Wettcke

Regie: Francis Meletzky

Quote: 14,57 Mio. Zuschauer (41,1% MA)

EA: 16.01.2022 20:15 Uhr | ARD

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