In Köln häufen sich die Überfälle auf Paketdienst-Transporter, besonders vor Weihnachten. Bei dem aktuellen Fall geht es eher nicht um die Auslieferungsfracht: Nach einem heftigen Kampf ist der Kurier erstochen worden. In der Paketdienstfirma sind die Kollegen des Toten gegenüber Ballauf (Klaus J. Behrendt) und Schenk (Dietmar Bär) wenig auskunftsfreudig. Die Existenz aller hier scheint auf Kante genäht. „Sandalen-Klaus“ (Hans-Martin Stier), Ex-Postbote und längst im Rentenalter, muss wieder Pakete ausfahren, weil seine Tochter (Stefanie Philipps) arbeitsunfähig geworden ist. Boris (Nils Hohenhövel) verdient sich gern illegal etwas dazu. Dass er ein Auge auf Lena (Zoe Valks) geworfen hat, die Freundin des Ermordeten, der offenbar sein bester Freund war, entlässt ihn nicht aus dem Kreis der Verdächtigen. Ihre ganz eigene Moral legt auch Firmenchefin Jäger (Susanne Bredehöft) an den Tag, die Probleme mit ihrer Fahrzeugflotte hat. Und dann ist da noch Jenny (Paula Kober), die ihr Studium aufgeben musste und sich jetzt mit diesem „Traumjob“ über Wasser hält. Als die Kommissare nicht mehr weiterwissen, schicken sie Natalie Förster (Tinka Fürst) undercover in die Höhle der Löwin. Die junge Kripo-Kollegin wird von Jenny eingearbeitet, und sie gewinnt langsam das Vertrauen der toughen, aber äußerst verschlossenen Frau.
Der „Tatort – Des anderen Last“ ist von der Dramaturgie her ein klassischer Whodunit, der sich allerdings nicht immer wie einer anfühlt. Der Grund: Die bewegenden Drama-Nebenplots sind so schlüssig und flüssig in die Krimi-Handlung integriert, sodass man als Zuschauer zwischenzeitlich vergessen kann, dass hier eigentlich ein Mörder gesucht wird. Dem Drehbuchautor Paul Salisbury („Atlas“, „Ein Leben lang“) reichen jeweils zwei, drei Szenen, um die Schicksale einer Handvoll Menschen emotional zu vermitteln. Regisseurin Nina Wolfrum („Nord bei Nordwest“, „Gestern waren wir noch Kinder“) und den Schauspielern gelingt es ihrerseits, diese Momente zwar markant in Szene zu setzen, sie allerdings nicht plakativ werden zu lassen. Dass diese vorweihnachtliche Welt da draußen unabhängig von der Perspektive der Kommissare existiert, ist das große Plus dieser Geschichte. So kommen Ballauf & Co nur selten in die Verlegenheit, das bewährte Ermittler-Einmaleins abzuspulen, und kriegen wenig Gelegenheit zur moralischen Entrüstung, die lange Zeit zu diesem „Tatort“ gehörte wie der Dom zu Köln. Sie haben Zeit, sich aufs finale Wichteln vorzubereiten, und die W-Frage, die sich Freddy Schenk diesmal als die dringlichste stellt, ist nicht: „Wo waren Sie gestern abend“, sondern „Welche Tasche schenke ich meiner Frau zu Weihnachten?“
Das Milieu der Paketdienste und das jahreszeitliche Ambiente passen nicht nur vordergründig perfekt zusammen. Besonders in der Weihnachtszeit befindet sich das System am Anschlag, arbeiten die Paketboten am Limit. Weihnachten, das Fest des Schenkens, der Besinnlichkeit und der Liebe, wird die Wochen davor ad absurdum geführt. Und Autor Salisbury schneidet im Presse-Interview einen weiteren Subtext der Geschichte an: „Wir entledigen uns der Last des selbst Tragens – dieser Dienst wird gewissermaßen aus unserem Leben ‚ourgesourcet‘ auf die Kuriere.“ Das alles schwingt mit bei diesem Krimi, der von seiner weihnachtlichen Anmutung her stimmungsvoller ist als so manches Christmas-TV-Movie; am Ende aber erzählt „Des anderen Last“ dann doch eine ganz andere Geschichte. Der Krimidrama-erfahrene Zuschauer wird des Rätsels Lösung möglicherweise nach einer Stunde erkennen, dennoch bleibt dieser „Tatort“ bis zum Schluss (figurenpsychologisch) spannend, weil er ein so tragisch-trauriges Schuld-und-Sühne-Motiv ausspielt – und Regisseurin Wolfrum für diesen Wirkaspekt die passende Besetzung fand. Was dem Film besonders gut gelingt, ist die Integration des „Themas“ in den Krimi-Plot. Häufig laufen diese Konstanten deutschen Krimi-Erzählens nebeneinander her: Da wird ein sozialkritisches Fass aufgemacht, um den Krimi anzureichern und so die Mördersuche auf 90 Filmminuten ausdehnen zu können. In Salisburys Narration indes entwickeln sich Verbrechen und Tragödie direkt aus der Paketdienst-DNA.
Soundtrack:
Elvis („Always On My Mind“, „Here Comes Santa Claus“), Doris Day („Perhaps, perhaps, perhaps“), Herbert Grönemeyer („Mambo“), David O’Dowda („This Is The Walk“, „Finding a Place“), Toto („Africa“), Münchner Freiheit („Ohne Dich“)
Dass dieser Film vor allem als Drama besticht, ohne als Krimi „langweilig“ zu werden, hat neben dem dichten Drehbuch und dem frischen Wind, für den Tinka Fürst als Undercover-Ermittlerin nach „Spur des Blutes“ auch diesmal wieder sorgt, viel mit der Sinnlichkeit der Inszenierung zu tun. Schon die Eingangssequenz macht Lust auf diesen WDR-„Tatort“. Mit einer assoziativen Montage werden Charaktere, Gesichter, Stimmungen und Motive vorweggenommen, die in den 90 Minuten eine Rolle spielen werden. Das gleiche Prinzip findet sich am Ende. Statt des Ermittler-Duos an der erfreulicherweise längst ausgemusterten Curry-Bude trifft sich das gesamte Team zum weihnachtlichen Outdoor-Wichteln. Zuvor wurden auch die Episodenfiguren verabschiedet – respektvoll, nachdenklich, manche mit Hass, andere mit Hoffnung erfüllt; das ist nur logisch, denn alle diese Figuren haben eine „Geschichte“, auch wenn sie sich nur in einem kleinen Ausschnitt ihrer Leben manifestiert. So könnte der freundliche alte Herr von nebenan (Dieter Schaad), obwohl er nichts mit dem Fall zu tun hat, möglicherweise am längsten in Erinnerung bleiben von diesem überaus stimmigen „Tatort“, dessen großer visueller Reiz auch viel mit dem Dunkel der Jahreszeit zu tun hat.