Jede Kriminalgeschichte braucht einen Schurken oder eine Schurkin. In der „Tatort“-Folge „Der Turm“ bleiben die Schurken anonym, dafür gibt es eine starke Metapher für das Böse. Ein Hochhaus, das wie eine uneinnehmbare Trutzburg in den Himmel ragt, ein hässlicher Betonklotz, Heimat eines undurchsichtigen Firmengeflechts. Zu Füßen des Hauses wird zu Beginn eine tote junge Frau gefunden, die offenbar bei einer Sexparty erstickte und deren Leiche vom Dach geworfen wurde. Weil Brix (Wolfram Koch) mit dem Auto noch hinter einer Straßenreinigungskolonne feststeckt, geht Kollegin Janneke (Margarita Broich) allein in das Haus. Brix findet sie später mit einer Wunde am Kopf im Aufzug. Im Krankenhaus wird ein Schädelhirn-Trauma diagnostiziert, das Janneke eine Zeitlang außer Gefecht setzt.
Die Polizei als hilflose Ordnungsmacht
Trotz der notorischen Leiche zu Beginn zählt „Der Turm“ zu den unkonventionellsten „Tatort“-Folgen des Jahres. Allerdings auf eine Weise, die den Teil des Publikums, das am Ende umfassende Aufklärung und ein Stück Gerechtigkeit erwartet, kaum befriedigen dürfte. Den Film könnte man als Parabel auf das außer Kontrolle geratene Eigenleben des Finanzkapitalismus sehen. Autor und Regisseur Lars Henning („Kaltfront“, „Zwischen den Jahren“) inszeniert den Büroturm konsequent von außen, als verschlossene, eigene Welt, auf die der Staat keinen Zugriff hat. Ganz klein wirken die Kommissare vor dem riesigen Gebäude, was man sinnbildlich verstehen darf. Denn die Polizei ist hilflos und eben keine Ordnungsmacht mehr, personell zu dünn besetzt und überfordert von dem unübersichtlichen Konstrukt einer „Firmengruppe aus dem Kaukasus“. Brix möchte am liebsten „den ganzen Turm auf links drehen“, wird aber immer wieder von Staatsanwalt Bachmann (Werner Wölbern) ausgebremst, der den etatmäßigen Chef (Bruno Canthomas) in dieser Folge vertritt. Und Katja Flint als Anwältin Dr. Rothmann sorgt dafür, dass die Polizei nicht an die Investoren und Hintermänner der Firmengruppe herankommt.
IT-Experten, die von den Hintermännern nichts wissen wollen
Die Ohnmacht des Staates mag im Sinne eines konventionellen Krimi-Realismus‘ unglaubwürdig erscheinen, aber den in grün- und gelbstichige Bilder getauchten Frankfurter Finanzplatz als Geheimbund mit nur schemenhaft angedeuteten Akteuren zu erzählen, dieser Ansatz ist definitiv interessant: In „Der Turm“ gibt es keine Investmentbanker in Design-Klamotten, kein Adrenalin-getriebenes Geschäftemachen im Handelsraum, auch von der Sex-Party für Investoren wird nur geredet. Allein zwei unscheinbare junge IT-Experten, die vorgeben, über Zusammenhänge und Hintermänner nichts zu wissen, treten in Erscheinung. Sie seien die Nerds, „die man mit Geld in einen Raum einsperrt, hin und wieder ’ne Pizza unter der Tür durchschiebt, und wenn man die Tür wieder aufmacht, ist mehr Geld da“, sagt Jonathan (Rouven Israel). Wie das mit Computerprogrammen funktioniert, die blitzschnell Gewinnchancen errechnen und eigenständig am Aktienmarkt Handel abschließen, hat sein Freund Bijan (Rauand Taleb) schon zu einem früheren Zeitpunkt erläutert. Bijan ist die einzige Hoffnung für Brix, mehr über das Innenleben im „Turm“ zu erfahren. Er hatte offenbar Kontakt zu der bei der Party ums Leben gekommenen jungen Frau.
Jannekes Fotografien geben ihr Geheimnis preis
Brix strampelt sich redlich ab, doch reizvoller als seine klassische Ermittlungsarbeit mit den typischen Reibereien zwischen Kommissar und Vorgesetztem sowie wenig raffiniert konstruierten Drehbuch-Wendungen ist die Geschichte Jannekes. Zum einen setzt Lars Henning die Eigenart der Kommissarin, am Tatort gründlich zu fotografieren, endlich mal sinnvoll ein. Mit der Kamera blicken wir Zuschauer teilweise durch die Linse des Fotoapparats, und auf den unterbelichteten, unscharfen Bildern aus dem Inneren des „Turms“, auf denen scheinbar nichts zu sehen ist, wird Janneke später einen entscheidenden Hinweis finden. Man muss diese „Tatort“-Folge nicht gleich im selben Atemzug mit Michelangelo Antonionis „Blow up“ nennen, aber um Wahrnehmung und die Wahrheit hinter den Bildern geht es auch hier. Janneke entlässt sich selbst aus der Klinik, obwohl der Arzt vor paranoiden Schüben und Wahrnehmungsstörungen warnt. Da hat das Publikum bereits einen Alptraum Jannekes mit einer höchst unangenehmen Szene hinter sich. Müde und mit verbundenem Kopf beteiligt sich die Kommissarin nun wieder an den Ermittlungen (sofern sie nicht gerade schläft), und man könnte meinen, dass sie, die im Inneren eine verhängnisvolle Begegnung mit einem Unbekannten hatte, den „Turm“ besser „verstanden“ hat als ihre Kollegen.
Kein Entkommen aus diesem Haus des Geldes
Häuser als unheimliche Orte mit Eigenleben, das ist ein beliebtes Sujet im Horrorfilm – und die Spukhaus-Parodie gab es ja auch schon im Frankfurter „Tatort“ („Fürchte Dich“). Hier ist das unheimliche Hochhaus eine Metapher für den Finanzkapitalismus, der seine Akteure, sind sie einmal in seine Fänge geraten, korrumpiert und gefangen hält. „Man lässt sich nur kurz auf etwas ein, um etwas ganz anderes zu erreichen – und dann kommt man nicht mehr raus. Erst will man nicht mehr raus und dann kann man nicht mehr raus“, sagt Dr. Rothmann, die Anwältin der „Turm“-Firmen, in einem Schlüsseldialog mit Janneke. Vielleicht hätte Henning noch häufiger und mutiger mit Elementen des Horror-Genres spielen und die Grenzen des „Tatort“-Formats noch stärker austesten können, das deprimierende Ende dieser mittelmäßig spannenden Episode ist allerdings folgerichtig. (Text-Stand: 2.12.2018)