Ein unsichtbarer Schupo will den ganz großen Abgang
Bombenanschlag und Vergiftung – da will einer ganz auf Nummer sicher gehen! Zielobjekt der mörderischen Attacken ist ausgerechnet der verschrobene Schutzpolizist Ludwig Maria Pohl (Arndt Schwering-Sohnrey), genannt Lupo, der ständig Kakao schlürft, einen Rosen-Tick hat und Kollegin Kira (Nora Tschirner) vergöttert. Der sei der beste Mensch, den sie je gekannt habe, bemerkt sichtlich ergriffen Olga Kruschwitz (Carmen-Maja Antoni), einst seine Kinder-Gärtnerin & beste Freundin seiner früh verstorbenen Mutter, in Anbetracht der Tatsache, dass Ludwig Maria in den nächsten 72 Stunden sterben werde. Weniger traurig darüber sind die verfeindeten Fabrikantentöchter Amelie (Laura Tonke) & Desiree Scholder (Katharina Heyer), deren Vater kürzlich auf merkwürdige Weise verstorben ist. Da dieser bekanntermaßen alles flachlegte, was nicht bei drei auf den Bäumen war, hatten sie nach seinem Tod plötzlich einen Bruder und Miterben am Bein. Olga, die immer schon wusste, dass Lupo ein Scholder ist, hat dessen Erbschaftsanspruch mit einem Vaterschaftstest durchgesetzt. Und sie ist jetzt seine Alleinerbin; die Burg, die Lupo für fünf Millionen Euro erstanden hat, könnte Olgas Alterssitz werden. Als Mörder bietet sie Dorn & Lessing (Christian Ulmen) ihren verkommenen Sohn Ringo (Florian Panzner) an: Der wurde von Lupo in den Knast gebracht und ist seit wenigen Tagen wieder draußen. Als dieser den Polizisten nach dem missglückten Bombenanschlag später im Krankenhaus ersticken will, weiß der sich zu wehren. Das ist der Startschuss für Lupos Initiation als Mann. Der scheidende Schupo will einen ganz großen Abgang.
„Wie im Märchen gibt es böse Schwestern, verschlagene Schurken, eine Kräuterhexe, eine Burg auf dem Berg und ein Dorf im Tal, wo die Schlote einer Fabrik vor sich hin rauchen. Auch visuell haben wir uns am Märchen orientiert. Es ist draußen kalt und innen warm. Man möchte sich schnell verkriechen, in Sicherheit bringen vor all dem Bösen da draußen.“ (Sebastian Marka, Regie)
Foto: MDR / Anke Neugebauer
Es war einmal ein Staat, der hielt seine Bürger unmündig
Der „Tatort – Der scheidende Schupo“ lädt ein zur Märchenstunde mit Mörderraten. Was als vertrackter Wodunit mit einem ausgesprochen verschrobenen Personal beginnt, spinnt sich langsam aus zu einer zartbitteren Fabel über das Unmündigsein. „In Wirklichkeit hat keiner der Verdächtigen den Kindergarten je verlassen – oder aufgehört, Olga zu gehorchen“, so Regisseur Sebastian Marka, der hier seinen fünften außergewöhnlichen „Tatort“ innerhalb von zwei Jahren vorlegt. Der böse Ringo, die beiden Fabrikantenschwestern und offenbar auch der heutige Anwalt der Firma gingen mit Lupo in den Scholder-Betriebskindergarten. Alle sind auf ihre Art, Kinder geblieben – die einen böse und verzogen, die anderen brav und unsicher. Fünf – wie im Märchen – klar gezeichnete Typen, die immer wieder an sich selbst scheitern. Nur die Kindergärtnerin weiß, wer wie tickt. Wer dahinter mehr Gesellschaftliches lesen möchte, der darf das tun (es war einmal ein Staat, der hielt seine Bürger wie Unmündige…). Für die Geschichte wichtiger ist allerdings, dass die Titelfigur endlich einmal „halt“ ruft und die bis dahin höchst amüsante Krimikomödie so noch mal in eine andere Richtung Fahrt aufnehmen kann: Erzählt wird von einem, der auszieht, die Rache zu lernen, um im Genre des Films zu bleiben. Entsprechend ist dieser vierte Weimarer „Tatort“ für Regisseur Marka eine Mixtur aus Märchen & Coming-of-age-Geschichte. Und während die Vorgänger dieses „Tatorts“ in Weimar Plattenbauten entdeckten, Bordelle auf die Wiesen verpflanzten oder Dorn und Lessing im FKK-Club ermitteln ließen, wenden sich die Autoren Murmel Clausen und Andreas Pflüger nun der „wahren“ thüringischen Kulturgeschichte zu: den Schlössern, Burgen, der Porzellanmanufaktur – der Thüringer Rostbratwurst, die Marka in Großaufnahme platzen lässt. Auch ein bisschen angekohlt muss sie schon sein. Ein wahrhaft fettes Bild!
Im „Tatort“ Weimar schafft die Ironie ein verbindliches Klima
Auch wenn sich die Kommissare, der oberschlaue Lessing und die fixe Kira, mit ihren privaten Jokes in „Der scheidende Schupo“ zurückhalten, so bleiben sie doch das Herzstück auch dieser „Tatort“-Episode: Die ganz spezielle Art der beiden zu kommunizieren, über den Fall zu spekulieren, die Verdächtigen zu befragen oder sich ins Getümmel zu stürzen, gibt den einzelnen Szenen ihre Besonderheit. (Selbst-)Ironie ist und bleibt die stärkste Waffe dieser beiden und sie sorgt für die typische Krimi-Tonlage Weimar. Dass das Gewitzel des Paars etwas zurückgenommen wurde, hat sicherlich mit der Story zu tun: Auch wenn wir uns in einem Märchenkrimi befinden, so liegt doch die Titelfigur durchgängig im Sterben. Da kommt der Fun-Generator der Kommissare schon mal ins Stocken; insbesondere auch deshalb, weil den beiden bei der Tatortbegehung und Hausdurchsuchung erschreckend deutlich wird, wie wenig sie doch über diesen seltsamen Kollegen wissen, den sie unbedacht wie alle „Lupo“ genannt haben und immer noch nennen, obwohl er doch Ludwig Maria heißt. Und das ist abermals auffallend bei Ulmen, Tschirner und Torsten Merten (der mit seinem Gespür für komisches Timing diesmal so richtig punkten darf!): Trotz ironischer Grundtonlage werden ernsthafte Situationen auch ernsthaft an- oder ausgespielt. Lupos Schicksal scheint die Kollegen tatsächlich zu berühren – das kann selbst der dramaturgisch kluge Running Gag mit der Bio-Toilette Exkrema 7500 („Hast du gepupt?“) nicht vergessen machen. Und am Ende gerät Lessing kurzzeitig in Gefahr, wobei aber nur sein geliebtes Sakko leidet. Und auch hier steckt in dem Satz „Ich kauf dir ein neues Jackett“ mehr Empathie als Komik. Das ist ein Unterschied zum „Tatort“ Münster, bei dem Witze häufig auf Kosten der Figuren gehen. In Weimar ist die Ironie vor allem dazu da, ein verbindliches, „warmes“ Klima zu schaffen.
Foto: ´MDR / Anke Neugebauer
Kurzporträt Sebastian Marka, geboren 1978 in Genf, Absolvent der Filmakademie Baden-Württemberg, Diplom im Bereich Kamera, Arbeit als Editor (das erklärt seine Perfektion im Bereich Erzählrhythmus und visuelles Konzept). Fünf beeindruckende „Tatort“-Episoden in zwei Jahren: „Das Haus am Ende der Straße“ (HR) mit Król & Rohde. „Hinter dem Spiegel“ (HR) mit Broich & Koch. „Die Wahrheit“ (BR) mit Nemec & Wachtveitl. „Es lebe der Tod“ (HR) mit Tukur & Harzer. „Der scheidende Schupo“ (MDR) mit Tschirner, Ulmen & Merten
Ein federleichter Genre-Mix – und alle wollen „nur“ spielen
Zu diesem Klima gehört: ganz viel reden. Besonders Klugscheißer Lessing, der die Pause beim Sprechen kultiviert, und Schnelldenkerin Dorn, die Pausen eher vernachlässigt, quasseln gern, aber auch ihrem Chef Stich sticht verbal gelegentlich der Hafer („Ich glaube, mein Mops tanzt Mambo“). Mit ihrer Rhetorik umspinnen sie die Szenen zu einer Art Kokon, in den alles märchenhaft eingewickelt wird: die Rache, die Liebe, die Sühne. Daraus ergibt sich ein vermeintlich old-fashioned anmutender Konversationskrimi. Häufig sind vier, fünf und mehr Figuren im Laufe einer Szene zugegen. Manchmal suchen die Ermittler nur einen Verdächtigen auf, stoßen dann aber auf mehrere. Das hat mit dem Beziehungsnetz aus der Kindheit zu tun: ob Seilschaft, Feindschaft, Freundschaft – dieses Netz reißt einfach nicht. Das sieht beim ersten Mal alles eher unspektakulär aus, beim zweiten Sehen allerdings erkennt man, wie präzise das Ganze geschrieben und inszeniert wurde, wie perfekt jede Situation in die nächste greift. Keine Szene, die sich damit begnügen würde, die Krimihandlung weiterzubefördern. Keine Szene, die sich nur darin gefallen würde, etwas zu zitieren – ein Märchenbild, ein Edgar-Wallace-Motiv, eine vermeintliche Loriot-Referenz (bei der köstlichen Museumsführung gleich zu Beginn). Und keine Szene, die einfach nur komisch sein will. Somit gelingt den Weimarern etwas, was – prinzipiell ähnlich, konkret aber völlig anders – auch beim anderen MDR-„Tatort“-Ableger, dem Trio aus Dresden, ähnlich gut klappt: das Setzen einer komischen Note. Während Autor Ralf Husmann („Vorsicht vor Leuten“) die sozialen Lügenspiele mit einem modernen Ansatz von Sozialkritik durchleuchtet, federn der Comedy-Hipster Clausen und der „Tatort“-erfahrene Pflüger die böse Wirklichkeit komödiantisch-märchenhaft ab. Man hat den Eindruck, die wollen „nur“ spielen. Verkehrt ist das nicht!