Tatort – Der Mann, der lügt

Manuel Rubey, Richy Müller, Felix Klare, Neuwöhner, Eigler. Die Täterperspektive

Foto: SWR / Alexander Kluge
Foto Tilmann P. Gangloff

Seit geraumer Zeit ist der „Tatort“ aus Stuttgart thematisch & erzählerisch immer wieder für positive Überraschungen gut. Mit „Der Mann, der lügt“ setzt der SWR diese Serie fort, auch wenn die Kommissare Lannert und Bootz ausgerechnet zum Zehnjährigen bloß Nebenfiguren sind: Martin Eigler und Sönke Lars Neuwöhner schildern die Ereignisse dieses Krimis ausschließlich aus der Perspektive der Titelfigur, die sich immer tiefer in ein Netz aus Lügen verstrickt und zunehmend verdächtig wird. Das allein ist schon ungewöhnlich, aber auch die Besetzung der Hauptrolle ist mutig: Der Wiener Manuel Rubey ist zwar ein vorzüglicher Schauspieler, gehört jedoch nicht zur Riege der Topstars hierzulande. Aber wie es ihm gelingt, die Fassade johnnydepphaftiger Jungenhaftigkeit zerbröseln zu lassen, ist mehr als sehenswert. Ein erneut hochklassiger Stuttgart-„Tatort“ des selbst produzierenden SWR!

Während anderswo zuletzt vermeintliche Vampire, künstliche Intelligenzen oder zumindest das organisierte Verbrechen ihr Unwesen getrieben haben, hat dieser „Tatort“ aus Stuttgart eine klassische Krimihandlung: Nach der Ermordung eines Anlageberaters sucht die Polizei den oder die Täter im Kreis seiner Kunden, denn der Mann hat einige Menschen um viel Geld gebracht. Es dauert allerdings eine Weile, bis Martin Eigler (auch Regie) und Sönke Lars Neuwöhner preisgeben, worum es wirklich geht. Die beiden Autoren mögen zwar eine gewöhnliche Geschichte erzählen, aber sie tun das auf unkonventionelle Weise: Zentrale Figuren sind nicht die Ermittler Lannert und Bootz (Richy Müller, Felix Klare), sondern die Titelfigur, „Der Mann, der lügt“. Dass sich ein Krimi aus Sicht des Täters ereignet, ist im „Tatort“ mittlerweile zwar selten, aber nicht ungewöhnlich. Eigler und Neuwöhner, die schon öfter zusammengearbeitet haben (zuletzt beim „Lissabon-Krimi“, davor unter anderem bei dem sehenswerter Stuttgarter Knastkrimi „Freigang“, 2014), wählen jedoch einen anderen Ansatz: Jakob Gregorowicz (Manuel Rubey) führt das Leben eines unbescholtenen Bürgers. Als ihn eines Morgens die Kriminalpolizei an seinem Arbeitsplatz erwartet, scheint es sich um reine Routine zu handeln, denn sein Name stand im Kalender des Opfers; offenbar waren die beiden zur Tatzeit miteinander verabredet. Gregorowicz versichert jedoch, er habe den Mann seit zwei Jahren nicht gesehen. Doch was zunächst so wirkt, als sei die Sache für ihn damit erledigt, ist in Wirklichkeit die erste von vielen Unwahrheiten, die am Ende einen Sumpf ergeben, in dem Gregorowiczs komplettes Dasein versinkt. Tatsächlich hat er den Vermögens-Berater nicht nur regelmäßig getroffen, er hat durch den Mann auch 200.000 Euro verloren.

Tatort – Der Mann, der lügtFoto: SWR / Alexander Kluge
Schon wieder die Kommissare Bootz (Klare) und Lannert (Richy Müller)! Katharina (Britta Hammelstein) und Jakob Gregorowicz (Manuel Rubey) sind langsam genervt.

Es wäre etwas übertrieben, „Der Mann, der lügt“ für eine völlig neue Erzählweise zu loben, aber es ist mehr als atypisch, das Stamm-Ensemble zu Nebenfiguren zu degradieren; Staatsanwältin Alvarez (Carolina Vera) und Kriminaltechnikerin Nika Banovic (Mimi Fiedler) haben jeweils bloß ein oder zwei kurze Auftritte. Auch die beiden Kommissare werden ausschließlich so geschildert, wie der sich in immer größere Widersprüche verwickelnde Verdächtige sie erlebt. Eine Ausnahme macht der Film einzig bei seiner Frau Katharina (Britta Hammelstein), indem er in kurzen Einschüben auch mal ihre Perspektive übernimmt; ansonsten bleibt die Kamera ausschließlich bei Gregorowicz. Das ist auch deshalb mutig, weil der Österreicher Manuel Rubey zwar ein ausgezeichneter Schauspieler ist, hierzulande aber nicht zur ersten Riege der üblichen TV-Stars gehört. Dass er einen Film tragen kann, hat er allerdings schon einige Male bewiesen, etwa in der platonischen Liebesgeschichte „Seit du da bist“ (2016, mit Martina Gedeck) oder als Ermittler in dem ORF-Landkrimi „Drachenjungfrau“ (2016, im ZDF im Juni 2018 ausgestrahlt). Als „Mann, der lügt“ erweist sich Rubey des Vertrauens der SWR-Redaktion mehr als würdig: Je tiefer Gregorowicz in seinem ganz persönlichen Sumpf versinkt, umso stärker verfällt seine johnnydepphaftige Jungenhaftigkeit. Das hat natülich auch mit dem Maskenbild zu tun, aber Rubey versieht den Mann zudem mit entsprechender Körpersprache. Als es kein Zurück mehr gibt, sieht Gregorowicz aus, als raffe ihn eine unheilbare Krankheit dahin; Rubey muss sehr glücklich gewesen sein, als ihm diese Rolle angeboten wurde. Ebenfalls eine interessante Figur ist der Schwager des Mannes: Auch sein sympathisches Schwäbeln kann nicht verbergen kann, dass Moritz Ullmann ein knallharter Jurist ist; Hans Löw spielt den Anwalt unangenehm glaubwürdig. Das Besondere an dieser Rolle ist jedoch die Behinderung, oder richtiger gesagt: die Tatsache, dass sie überhaupt nicht thematisiert wird; der Mann sitzt eben im Rollstuhl.

Bildgestalterisch fällt dieser insgesamt 22. Fall für Lannert und Bootz, mit dem der SWR das Zehnjährige des Duos Müller/Klare begeht, zwar nicht weiter aus dem Rahmen, aber es gibt dennoch immer wieder Details, die belegen, wie sorgfältig Buch und Regie den Film durchdacht haben. Der Prolog mit der ersten Befragung endet mit dem Titel, und Kameramann Andreas Schäfauer lässt mit einer einfachen Einstellung keinen Zweifel daran, auf wen sich „Der Mann, der lügt“ bezieht. Später leidet Gregorowicz zunehmend unter Wahrnehmungsbeeinträchtigungen; ein simpler, aber wirkungsvoller Hinweis auf den immer stärker werdenden Druck. Hinzu kommen regelmäßige optisch verfremdete und mit dissonanter Musik unterlegte gewalthaltige Szenen, bei denen offen bleibt, ob es sich um Visionen, Albträume oder Erinnerungen handelt. Mindestens so faszinierend wie diese Erzählweise ist es jedoch, Lannert und Bootz mal ganz anders zu erleben: Für den Verdächtigen sind sie natürlich Fremde, die zu Feinden werden, weil ihre bohrenden Fragen dafür sorgen, dass sich die Schlinge um seinen Hals immer enger zieht. Eigler und Neuwöhner präsentieren die Polizisten daher frei von allen persönlichen Details: Es gibt keine Frotzeleien oder andere private Momente. Die beiden spielen zwar während einer zermürbenden Vernehmung „Guter Bulle, böser Bulle“, werden aber als korrekte, sogar etwas steife und daher undurchschaubare Beamte präsentiert. Weil der Film zwar zur Identifikation mit Gregorowicz einlädt, dankenswerterweise aber darauf verzichtet, in seinen Kopf zu schauen (etwa in Form von inneren Monologen), bleiben seine Handlungen ein Rätsel, selbst wenn sich Manches mit ein wenig Krimierfahrung von selbst erläutert; zum Beispiel der Zweck der Wohnung, von der seine Frau vermutlich nichts weiß. Trotzdem bleiben genug Fragen offen, um die Spannung bis kurz vor Schluss aufrechtzuerhalten. Auch wenn das Ende eher ein Auslaufen als ein dramatisches Finale ist: Dem SWR ist nicht nur erneut ein hochklassiger „Tatort“ aus Stuttgart gelungen; „Der Mann, der lügt“ setzt zudem eine bemerkenswerte Serie von thematisch und erzählerisch immer wieder überraschenden Krimis fort.

Tatort – Der Mann, der lügtFoto: SWR / Alexander Kluge
Lannert (Richy Müller) bohrt nach – und die Schlinge zieht sich immer enger um den Hals des Verdächtigen. Spannung, obwohl man den Täter kennt. Rubey, Hammelstein

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Reihe

SWR

Mit Manuel Rubey, Richy Müller, Felix Klare, Britta Hammelstein, Hans Löw, Carolina Vera, Mimi Fiedler

Kamera: Andreas Schäfauer

Szenenbild: Andreas C. Schmidt

Kostüm: Stephanie Kühne

Schnitt: Claudia Lauter

Musik: Sea and Air

Soundtrack: The Beach Boys („Surfin’ USA“), Dinah Washington („Mad about the Boy”), The Doors („Riders on the Storm”)

Redaktion: Brigitte Dithard

Produktionsfirma: Südwestrundfunk

Produktion: Nils Reinhardt

Drehbuch: Martin Eigler, Sönke Lars Neuwöhner

Regie: Martin Eigler

Quote: 9,22 Mio. Zuschauer (26% MA)

EA: 04.11.2018 20:15 Uhr | ARD

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