Tatort – Der Boss

Paul Esser, Hugo Panczak, Heribert Sasse, Heinz Schirk. Mehr Milieu, weniger Spannung

Foto: SFB
Foto Tilmann P. Gangloff

Der RBB hat sich große Verdienste um die Erhaltung von Fernsehgeschichte erworben und 14 schon seit langer Zeit nicht mehr sendbare „Tatort“-Folgen restauriert. Den Auftakt der „Classics“, die der RBB während der Sommermonate montags um 22.15 Uhr zeigt, macht der erste Fall für den Berliner Kommissar Kasulke (1971). Doch „Der Boss“ erweist sich gemessen an heutigen TV-Gewohnheiten trotz seiner Kürze von nicht mal sechzig Minuten als echte Geduldsprobe: Die Geschichte über jugendliche Pelzräuber kann ihre Verwurzelung in der klassischen Fernsehspieltradition nicht verleugnen, Krimispannung kommt kaum auf, und Kasulke (Paul Esser), der ohnehin nur zwei Fälle lösen durfte, ist nur eine Nebenfigur.

Es ist selbst für passionierte Krimifans keine Schande, wenn sie mit dem Namen Erwin Kasulke nichts anfangen können. Der Berliner Kommissar aus der „Tatort“-Frühzeit ist ebenso in Vergessenheit geraten wie sein Darsteller Paul Esser, zumal Kasulke nur zwei Auftritte hatte. Dass die beiden Filme jahrzehntelang nicht zu sehen waren, hatte allerdings technische Gründe. Umso respektabler ist es, dass der RBB ein gutes Dutzend zum Teil uralter Produktionen hat restaurieren lassen. Nach einer HD-Abtastung vom ursprünglichen Filmmaterial gibt es diese historischen „Tatort“-Episoden nun in digitalisierter Form.

In Kasulkes Premiere, „Der Boss“, spielt der Ermittler bloß eine Nebenrolle. Auch sonst lässt sich der Film kaum an heutigen Sehgewohnheiten messen. Anders als viele Kinoproduktionen aus den frühen Siebzigern, die die Jahrzehnte als Klassiker gut überdauert haben und nicht zuletzt wegen ihrer typischen Form der Bildgestaltung noch heute reizvoll sind, kann dieser erste „Tatort“ des damaligen Sender Freies Berlin (Erstausstrahlung am 19.12.1971) seine Verwurzelung im klassischen Fernsehspiel nicht verleugnen. Selbst bei den Außenaufnahmen zeigt die Kamera stets nur einen begrenzten Bildausschnitt und konzentriert sich auf die Personen; es gibt praktisch keine Einstellung in der Totalen, die einen Straßenzug oder gar das Stadtpanorama zeigen würde. Mehr als nur gewöhnungsbedürftig ist auch die Führung gerade der jungen Darsteller, die wie Laienschauspieler sprechen; umso bedauerlicher, dass Esser, der wie der einzige Profi unter lauter Amateuren wirkt, nur wenige Szenen hat.

Die Geschichte (Buch: Johannes Hendrich) ist ebenfalls weder raffiniert noch sonderlich originell. Achim (Hugo Panczak), ein junges Großmaul, gerät eher zufällig auf die schiefe Bahn, als sich ihm die Gelegenheit bietet, einen Pelzmantel mitgehen zu lassen. Weil sich das Geschäft gelohnt hat und der Hehler (Günther Dockerill), ein Lebemann mit zwei Doggen und ausgesprochen extravaganter Brille, bereit wäre, auch weitere Lieferungen abzunehmen, begehen Achim und sein Kumpel Peter ihre Raubzüge in immer größerem Stil. Sie vergrößern ihre Bande und landen schließlich ein dreistes Ding, als sie ein Lager am helllichten Tag ausräumen. Aber den Anderen wird der selbsternannte „Boss“, der im Suff mit seinen Taten prahlt und gern mit einer Pistole herumfuchtelt, zu gefährlich. Also sorgen sie dafür, dass er, wieder mal betrunken, mit seinem Motorboot auf dem Wannsee geradewegs auf die Zonengrenze zusteuert; die Grenzsoldaten pflegen in solchen Fällen nicht lange zu fackeln.

  Die andere Meinung:
„Gute Milieuskizze. Knackiger Krimi mit Grenzstadt-Flair“ (TV-Spielfilm)

Tatort – Der BossFoto: SFB
Als „Tatort“-Kommissar vergessen: der Gründgens-Schauspieler Paul Esser. Den Baby-Boomern dürfte er noch bestens bekannt sein aus „Pippi Langstrumpf“. Sein Kasulke ermittelt im Fernsehspiel-Look der frühen 70er. Inge Wolffberg, Gerhard Dressel

Der Film dauert überraschenderweise nur eine knappe Stunde, was aber auch vollauf genügt, denn im Grunde passiert nicht viel, zumal sich die Szenen gleichen: Regisseur Heinz Schirk zeigt die Jungs mal beim Feiern, mal beim Klauen. Zwischendurch belehrt Kasulke seinen jungen Mitarbeiter, dass Polizeiarbeit im Wesentlichen aus Abwarten bestehe, und das tun sie dann auch, selbst über den Abspann hinaus; spannend ist das nicht, zumal auch das Erzähltempo sehr gemächlich ist. Reizvoll ist „Der Boss“ daher vor allem als Zeitdokument. TV-Produktionen aus den frühen Siebzigern werden so gut wie nie wiederholt; Kinofilme aus jenen Jahren, die den deutschen Alltag zeigen, sind ähnlich selten. Allein Achims Norbert-Nigbur-Frisur (ältere Schalke-Fans werden sich erinnern) ist ein Stück Zeitgeschichte. Das gilt erst recht für diverse soziologische Details, etwa den Dünkel eines der Mädchen aus dem Umfeld der Bande: Sie hält sich für was Besseres, weil sie in einer Drogerie arbeitet. Deshalb gibt sie Achim anfangs einen Korb, denn der ist bloß ein Fliesenleger mit schmutzigen Fingernägeln, obwohl sie von seinem Sportwagen mit den damals sogenannten Schlafaugen – die Klappscheinwerfer fahren nur aus, wenn man das Licht anmacht – beeindruckt ist.

Der Blick auf die Jugend jener Jahre ist auch deshalb sehr interessant, weil die meisten älteren Menschen in dieser Zeit des Aufbruchs ein verzerrtes Bild der Jugendlichen hatten; sie hielten sie entweder für Gammler oder für Revoluzzer. „Der Boss“ zeigt zwar ganz „normale“ junge Leute, aber selbst auf die ist kein Verlass mehr. Der Film verdeutlicht dies gleich mit der ersten Szene, als Achim und Peter bei der Arbeit Radio hören und einen Schlager abwürgen, der sehr nach Peter Alexander klingt. Die Filmmusik besteht größtenteils aus kurz angespielten englischen und amerikanischen Pop- und Rocksongs von Led Zeppelin bis Canned Heat. Von den jungen Schauspielern konnte sich Ronald Nitschke (Achims Freund und Kollege Peter) als Schurken-Darsteller sowie als gefragter Synchronsprecher etablieren; Elke Aberle (die Drogistin) wirkte wenige Jahre später immerhin als weibliche Hauptdarstellerin in Rainer Werner Fassbinders Fernsehdrama „Ich will doch nur, dass ihr mich liebt“ mit.

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Reihe

rbb

Mit Paul Esser, Hugo Panczak, Heribert Sasse, Ronald Nitschke, Christian Böttcher, Elke Aberle, Günther Dockerill, Gustl Bayrhammer

Kamera: Gero Erhardt

Szenenbild: Götz Heymann, Dietrich Medow

Schnitt: Friederike Badekow

Soundtrack: Canned Heat („On The Road Again“), Yvonne Elliman & Ian Gillan (“Everything’s Alright”, Abspannsong)

Produktionsfirma: SFB

Drehbuch: Johannes Hendrich

Regie: Heinz Schirk

EA: 19.12.1971 20:15 Uhr | ARD

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