Ein netter Pädophiler, der sein Opfer tötet, um den Missbrauch zu decken
Die Kripo Dresden im Ausnahmezustand. Ihr Chef Schnabel (Martin Brambach) steht völlig neben sich, macht Druck, doch Henni Sieland (Alwara Höfels) und Karin Gorniak (Karin Hanczewski) kommen einfach nicht weiter bei ihren Ermittlungen. Ein neunjähriger Junge ist missbraucht und ermordet worden, gefunden hat man ihn in einer Tasche am Ufer der Elbe. Die äußeren Umstände erinnern an einen ungelösten Fall vor ein paar Jahren, der Schnabel immer noch an die Nieren geht; die Leiche des damals verschwundenen Jungen hat man bis heute nicht gefunden. Als Täter gehen die Kommissare von einem klassischen Pädophilen aus, der sein Opfer nur deshalb tötet, weil er den Missbrauch decken will. Es könnte einer sein wie dieser René Zernitz (Benjamin Lillie), der nette junge Mann von den Wasserwerken. Nach außen wirkt er wie „ein ganz normaler Typ“, gibt sich heterosexuell und hat eine feste Freundin (Alice Dwyer). Auf seine Spur kommt Sieland durch Zufall. Davor wird die Polizei von Zernitz’ Partnerin auf eine falsche Fährte gelockt: Der Schwimmtrainer des toten Jungen (Niels Bruno Schmidt) soll eine pädophile Neigung haben. Ein Verdacht mit tragischen Folgen.
Foto: MDR / Daniela Incoronato
Des Falles wegen: Mitgefühl & Anteilnahme statt ironisches Augenzwinkern
Auch wenn man im Bild nicht viel davon mitbekommt: Die Dresdner Volksseele kocht. Der Mob hat einen vermeintlich pädophilen Verdächtigen krankenhausreif geschlagen. Während der Zuschauer früh die Täterschaft erahnen kann und noch in der ersten Filmhälfte so gut wie Bescheid weiß, gelangen Sieland und Gorniak im fünften „Tatort“ aus Dresden erst spät auf die Spur des Mörders. „Déjà-vu“ kommt – anders als die beiden Auftaktfilme – ganz ohne komische Intermezzi aus. Der Film von Jungfilmer Dustin Loose („Rolltreppe abwärts“) nach einem Drehbuch von Mark Monheim und Stephan Wagner ist der bisherige Höhepunkt in Sachen Ernsthaftigkeit und emotionale Anteilnahme innerhalb dieses MDR-„Tatort“-Ablegers aus Dresden. Kindesmissbrauch und Mord vertragen sich nicht mit dem ironischen Augenzwinkern eines Ralf Husmann („Vorsicht vor Leuten“), der bisher an drei Drehbüchern von Sieland & Co maßgeblich beteiligt war. Der Fall zerrt an den Nerven der Ermittler. Der Chef dreht völlig durch und hadert mit den Datenschutzgesetzen, Gorniak projiziert das pädophile Muster auf ihren Lover von nebenan, weil der sich offenbar zu gut mit ihrem Teenagersohn versteht. Und Sieland nimmt den Fall auch physisch mit in ihre Freizeit: Bei einem Angriff auf den Schwimmlehrer, der von der Öffentlichkeit zu Unrecht zum Pädophilen abgestempelt wird, hat sie etwas abbekommen und liegt im Krankenhaus.
Opfer, Täter und Kommissare gleichermaßen im Blickfeld der Geschichte
Die Geschichte dieser „Tatort“-Episode beackert das ganze sensible Problemfeld eines solchen kapitalen Verbrechens. Neben den Auswirkungen des Falls auf das Privatleben der Kommissarinnen und den Nachwirkungen eines alten Falls auf die Psyche ihres Chefs wird in „Déjà-vu“ außerdem beleuchtet, was in den Hinterbliebenen der Opfer vor sich geht. Nach der Verzweiflung der Eltern des aktuellen Falls kommen auch die Eltern des ersten Kindsmordes ins Spiel, insbesondere der Vater, der sich nicht mit der Version der Polizei, das Kind sei offenbar ertrunken, zufriedengeben will. Jetzt, nachdem es einen ähnlichen Fall gibt, schon gar nicht. Die Frau klammert sich dagegen an die Unfallerklärung. Die Autoren Monheim und Wagner interessieren sich schließlich auch dafür, was der Täter für ein Mensch ist. Das alles mindert keineswegs die Spannung, sondern sorgt für eine mindestens ebenso aufregende psychologische Spannungsebene. Denn das vermeintliche Monster ist gleichzeitig auch ein Mensch, der geliebt werden kann – von einer Frau, die seine gefährliche Neigung kennt und lange Zeit bereit ist, ihn zu schützen. Aber die offene Führung bringt auch weiteren optionalen Nervenkitzel in die Handlung. Denn der Mann von den Wasserwerken hat sich ein neues Opfer ausgeguckt. Auch wenn dabei eher das Drama als der Thrill in den Vordergrund treten, so gewinnt der Film doch in der zweiten Hälfte deutlich. Besonders gelungen ist die Auflösung. Kein klassischer Last-Minute-Rescue. Ein psychologisch plausibles Ende.
Foto: MDR / Daniela Incoronato
Große Gefühlsausbrüche, filmisch gedoppelte Emotionen, eher kleine Bilder
Der multiperspektivische narrative Ansatz ist der Schwere dieses Verbrechens angemessen. Dieser „Tatort“ gewinnt deutlich durch die Idee, die Geschichte des Krimis mit Drama- und Thriller-Momenten zu vertiefen und gleichsam dramaturgisch zu beleben. Dennoch hat man den Eindruck, die verschiedenen Blickwinkel verhindern, dass die an sich gute Geschichte eine entsprechende Dynamik bekommt – und den Zuschauer so in irgendeiner Weise packen könnte. Anfangs sehen sich die Kommissarinnen konfrontiert mit ihrem überemotionalen Chef und den Opferfamilien, die sich im seelischen Ausnahmezustand befinden. Dann müssen sie Mitgefühl aufbringen für den Mann, der sich einer Hexenjagd gegenübersieht. Ab der Mitte des Films wird schließlich der Täter wieder aktiv. Der Zugang zur Geschichte bleibt aber analytisch. Einen stark mit Thriller-Momenten arbeitenden Krimi wollten die Autoren offenbar nicht machen. Das ist ihr gutes Recht. Für den Film hätte man sich dann aber eine andere Inszenierung gewünscht. Eine, die auch der Filmsprache eine kommunikative Kompetenz zubilligt und die die Emotionalität der Geschichte nicht vollständig den Schauspielern überlässt. Gefühle sind mehr als Gefühlsausbrüche. In diesem Film wird ein bisschen zu viel geweint, zu viel getobt, zu viel und zu naiv dem Authentizitätsmythos gehuldigt. Und wenn die filmischen Mittel ins Spiel kommen, dann wird die Darstellung gedoppelt, dann bohrt häufig der Score den Finger noch tiefer in die Wunde. Dann weint – wie im Schlussbild – auch noch der Himmel und der Zuschauer wird künstlich überwältigt von etwas, was in der (auf Distanz bauenden Konstruktion der) Geschichte so nicht angelegt scheint. So ehrenwert es auch ist, junge Regisseure für den „Tatort“ zu gewinnen, für diesen schwierigen Stoff mit seinen vielschichtigen Gefühlslagen war Dustin Loose (31), der noch keinen einzigen Primetime-Langfilm gedreht hat, offensichtlich nicht die beste Wahl. (Text-Stand: 23.12.2017)