Eine unkenntliche Leiche in einem angezündeten Transporter geben Nina Rubin (Meret Becker) und Robert Karow (Mark Waschke) Rätsel auf. Es gibt deutliche Parallelen zu drei älteren, unaufgeklärten Morden mit ähnlichem Tathergang. Eine Querverbindung führt in eine Kinderwunschklinik: Alle Opfer wurden dort mittels einer In-Vitro-Fertilisation gezeugt. Es waren tausende Paare, die die Geschäftsführerin Dr. Wohlleben (Almut Zilcher) und ihre Laborchefin und Lebenspartnerin Hanneke Tietzsche (Eleonore Weisgerber) über mehrere Jahrzehnte glücklich machten. Aber weshalb mussten gerade diese „Retortenbabys“ dran glauben? Und wo liegt die Verbindung der beiden Paare, deren Kinder trotz der Verbrennungen identifiziert werden konnten? Ein Bombenanschlag, der einst der Klinikchefin galt, macht die Kommissare hellhörig. Dieser ist zwar 30 Jahre her, aber der Täter von damals passt auch heute ins Täterprofil: Werner Lothar (Christoph Bach), als Teenager ein religiöser Fanatiker, war lange in der Psychiatrie; heute betreibt der Mann, der sich seltsamerweise Harbinger nennt, in einer Berliner U-Bahn-Station einen Schlüsseldienst. Noch immer leidet er unter einer schizophrenen Psychose. Was ist, wenn er seine Medikamente absetzt? Kann er dann zum Serienmörder werden? Aber was ist sein Motiv? Karow will es herausfinden und wählt dafür eine nicht ungefährliche Methode: Er beamt sich rein in Harbingers Wahn-Welt.
Mit zwei fremden, seltsamen Welten bekommen es die Berliner „Tatort“-Kommissare in ihrem sechsten Fall zu tun. „Dein Name sei Harbinger“ taucht ein in die Anonymität der Großstadt, in die Welt schizophrener Privatmythologien und in eine Welt, in der Menschen „Gott spielen“. Meret Beckers Figur ermittelt vornehmlich im Graubereich der Reproduktionsmedizin. Auch Carolyn Genzkows Anna Feil, das fleißige Recherche-Bienchen, mittlerweile Kommissars-Anwärterin, guckt sich um auf diesem Feld – im Alleingang und in eigener Sache. Als Harbinger sich den Zugang zu Feils Wohnung erschleicht, die Lebensverhältnisse der jungen Frau akribisch ermittelt, dokumentiert und später protokolliert, werden Erinnerungen wach an Lars Eidingers „stillen Gast“ aus zwei Kiel-„Tatorten“. Doch dieser Handlungsstrang wird nicht zum Thriller ausgebaut. Dieses Genre bleibt Mark Waschkes Kamikaze-Bullen vorbehalten. Der sucht mal wieder den Nervenkitzel, setzt sich dabei „Mächten“ aus, mit denen er es nicht aufnehmen kann und macht dabei eine weitere Grenzerfahrung mit dem Tod, die dieser Mensch offenbar zum Leben braucht. Christoph Bach, der in seinen Psycho-Rollen nicht nur vom Aussehen her dem „Mean-Streets“-de-Niro immer ähnlicher wird, spielt seinen „Wahn-Sinnigen“ wie fremd gesteuert. Alles ordnet dieser seinem Weltverschwörungs-System unter, überall wittert er die Apokalypse. Da wird in seinen Augen selbst die harmlose junge Frau vom Blumenladen gegenüber, die nur ein bisschen Nähe bei ihm sucht, zum Medium einer bösen Macht („Wer schickt dich? Dass du für diese Lügner arbeiten kannst!“).
Dieser „Tatort“ aus Berlin ist abgefahren und gleichsam realistisch. Es ist kein Abbild-Realismus, bei dem man das Erzählte mit eigenen Erfahrungen abgleichen kann, sondern es ist ein ästhetischer Realismus, der in Stimmungen seinen Ausdruck findet. Dieser speist sich aus der Machart des Films, insbesondere durch das Bild, das dem Zuschauer vom kulturellen Schmelztiegel Berlin gegeben wird, und der Umgangskultur der Kommissare, ihrer Radikalität und ihrer physischen Dringlichkeit. In „Dein Name sei Harbinger“ geht es in den Untergrund und in zwei verschiedene Abseiten der Gesellschaft. Der U-Bahn-Alltag wird präzise eingefangen: mal mit Alltagsblick, mal sinnlich verfremdet. Dieser „Realismus“ ist allen sechs Becker-Waschke-„Tatorten“ eigen. Doch fielen die durchaus sehenswerten Episoden drei und vier, „Wir – Ihr – Sie“ und „Dunkelfeld“, durch die Zwänge des horizontalen Erzählens passagenweise etwas gröber aus, wirkt der Film von Florian Baxmeyer nach dem Buch von Michael Comtesse und Matthias Tuchmann konzentrierter, dichter, physisch näher an den Charakteren. Das Privatleben der Kommissare wurde entschlackt. Rubin entledigt sich nach und nach ihrer Familie und Karow, anfangs sehr sarkastisch in dieser Episode, springt diesmal nicht mit jeder und jedem ins Bett. Blieb in der Tetralogie des Berliner „Tatorts“ (fast zu) viel Zeit für das Private, profitieren nun die klassisch episodisch erzählten Filme fünf („Amour Fou“) und sechs von der „Charakter-Bildung“ der Vorgängerfilme. Ihre Reihen-Geschichte kann man Rubin und Karow nicht nehmen; sie prägt entscheidend – jedenfalls für den aufmerksamen Zuschauer – das Bild der beiden Großstadtkommissare weiterhin mit.
„Harbinger ist ein Mann, der einerseits einer normalen Tätigkeit nachgeht und der andererseits in einem weitverzweigten Wahnsystem lebt. In diesem Wahnsystem kommt er einer gigantischen Weltverschwörung auf die Schliche, und er ist einer der wenigen, der die drohende Apokalypse abwenden kann. Infolgedessen lebt er in einem permanenten Ausnahmezustand.“ (Christoph Bach über seine Rolle)
„Mir hat es ein großes Vergnügen bereitet, wie unser Regisseur Florian Baxmeyer zusammen mit unserer Kamerafrau Eva Katharina Bühler die Szenen aufgelöst hat. Sie haben immer etwas Besonderes gefunden. Und gemeinsam haben wir Kleinigkeiten für unser Spiel erfunden, die unsere Charaktere widerspiegeln, ganz beiläufig … Oft waren es lange Einstellungen, nach Möglichkeit wenig Schnitte, dadurch wurden wir Schauspieler, die Kamera und alle anderen Gewerke sehr gefordert.“ (Meret Becker über den Regie-Stil von Florian Baxmeyer)
Bewegung ist alles in diesem vor allem auch inszenatorisch mitreißenden Krimi. Der Einstieg mit einer Schlägerei auf Leben und Tod ist fulminant. Die Erzählung insgesamt hat einen guten Fluss, die Narration, bis zur Hälfte als Parallelhandlung konzipiert zwischen den Ermittlungen hier und Harbingers mehr als merkwürdigem Verhalten dort, ist verständlich, lässt nicht zu viel offen, und der Zuschauer hat einen Wissensvorsprung, der zur Spannungssteigerung dient. Gelegentlich verselbständigt sich die Montage, dann ist (auch hörbar) Dynamik und Aufregung angesagt: Die U-Bahn rast scheppernd in den Schienen und ein Freak trommelt unter dem Alexanderplatz – verstärkt durch Stakkatoschnitte – auf alles, dessen er habbar werden konnte. Dieser nervöse Rhythmus ist der adäquate Unterboden für die Welt der mehr oder weniger gestörten Figuren. Gegen Harbinger wirken der unberechenbare Karow und die in den ersten Filmen so wilde Nachtschwärmerin Rubin wie brave Stadtneurotiker – aber für Tempo sind die beiden Schnelldenker immer gut. Dieses Immer-in-Bewegung-sein ist auch die perfekte ästhetische Methode, um die persönlichen Differenzen zwischen ihnen nicht bedeutungsschwer und allzu konfliktträchtig werden zu lassen. Filmisch besonders aufregend wird es, wenn sich beide im Raum bewegen, wenn also die Kamera entsprechend mit ihnen mitgehen muss, und wenn durch Schnitte das Ganze noch dynamischer wird (so in einer Szene in dem Pharmalabor, in dem der Tote gearbeitet hat). Dieser Bewegungsdrang und der Erzählrhythmus passen zu keiner deutschen Stadt so gut wie zu Berlin. Aber auch die Geschichte selbst, diese seltsamen, fremden Welten, die gar nicht mehr so neuen biochemischen Glücksversprechen und die Schizophrenie der Großstadt, kombiniert mit dem Manipulationsmythos à la Dr. Mabuse, sind in Berlin gut aufgehoben.