Tatort – Das verschwundene Kind

Furtwängler, Kasumba, Sakraya, Barshy, Franziska Buch. Neustart für die kühle Blonde

Foto: NDR / Christine Schröder
Foto Rainer Tittelbach

Mit dem 26. Lindholm-„Tatort“ schlägt der NDR einen neuen Weg ein für die Flaggschiff-Ermittlerin und für Maria Furtwängler: LKA war einmal; die so sehr von sich überzeugte Frau aus Hannover wird nach Göttingen strafversetzt. Die Einzelgängerin wird sich hier  längerfristig der Konfrontation mit ihrer neuen Kollegin stellen müssen. Gespielt wird sie von der amazonenhaften Florence Kasumba. Ein echter Besetzungscoup. Aber auch ein reizvoller Kontrast, solange der nicht überbetont wird. In „Das verschwundene Kind“ (filmpool fiction) sind noch die Kinderkrankheiten zu erkennen, die auftreten, wenn in Krimis neue Kollegen aufeinandertreffen oder eine Reihe reloaded wird. Und so wird dieser Film in Erinnerung bleiben vor allem wegen des Themas „negierte Schwangerschaft“ und der Umstände, wie eine von der Geburt überraschte 15-Jährige ihr Kind zur Welt bringt. Dieser „Tatort“ macht trotz dramaturgischer Klischees von Anfang an neugierig und bleibt bis zum Ende spannend.

In ihrem letzten Fall hat sich Charlotte Lindholm (Maria Furtwängler) nicht mit Ruhm bekleckert. Ihr Alleingang hat zum Selbstmord eines Verdächtigen geführt. Das bleibt auch für sie nicht ohne Folgen: Die erfolgsgewohnte LKA-Frau wird zur Polizeidirektion Göttingen strafversetzt. Ausgerechnet sie, die notorische Einzelgängerin, sieht sich hier einem eingespielten, allerdings nicht immer hochprofessionell arbeitenden Team gegenüber. Ausgebremst wird sie zunächst von Kriminalkommissarin Anais Schmitz (Florence Kasumba), die mit ihren Kollegen gut kooperiert, insbesondere mit dem Pathologen Nick (Daniel Donskoy), der ihr seinen Nachnamen & seine Liebe geschenkt hat. Das große Besteck kann hier in der Provinz Lindholm ohnehin nicht auf Knopfdruck anfordern. Angebracht wäre es allerdings schon bei ihrem ersten Fall. Die 15jährige Julija Petkow (Lilly Barshy) hat unter unvorstellbaren Bedingungen ein Kind zur Welt gebracht. Die junge Mutter, die ärztlich versorgt werden muss, ist unauffindbar. Auch von dem Neugeborenen gibt es keine Spur. Die Zeit drängt also – will man beide lebend finden. Was die Polizei nicht weiß: Das Mädchen hat sich ihrem Halbbruder (Emilio Sakraya) anvertraut, der mit ihr, ihrem Vater (Merab Ninidze) und ihrer kleinen Schwester (Zora Müller) eigentlich keinen Kontakt aufnehmen darf. Nachdem die Kommissarinnen die Identität der jungen Mutter ermitteln konnten, sind sie dem möglichen Vater auf der Spur. Ein Lehrer (Steve Windolf) und ein Schüler (Oskar Belton), der mit ihr intim war, machen sich verdächtig. Auch der Vorwurf des Missbrauchs steht im Raum. Ein Fall, der Fingerspitzengefühls bedarf. Ob das die beiden Alpha-Frauen hinkriegen?

Tatort – Das verschwundene KindFoto: NDR / Christine Schröder
Das Duo Charlotte Lindholm/Maria Furtwängler & Anais Schmitz/Florence Kasumba hat ein großes Potenzial. Die äußerlichen Kontraste der beiden norddeutschen Kommissarinnen sind markant genug für physisch-sinnlich vermittelte Geschichten.

Mit dem 26. Lindholm-„Tatort“ schlägt der NDR einen neuen Weg ein für die Flaggschiff-Ermittlerin und für deren prominente Darstellerin Maria Furtwängler. Mit „Lindholm, LKA Hannover“ wird sich die Frau aus Niedersachsen in der nächsten Zeit nicht mehr vorstellen, auch wenn es ihr im Neustart-Auftaktfilm „Das verschwundene Kind“ noch allzu häufig passiert. Aber in ihrer Überheblichkeit, die sie selbst nach ihrem dicken Patzer im „Fall Holdt“ nicht ablegen kann, stellt sie ja ohnehin mehrfach klar, dass sie in Göttingen nicht bleiben wird. Die für die Reihe Verantwortlichen wissen natürlich mehr. Und es ist gut, dass Charlotte Lindholm eine berufliche Neuausrichtung erfährt. Sie wird der unterkühlte Kontrollfreak bleiben, aber der Konfrontation mit ihrer neuen Kollegin wird sich die besonders beim „Normalzuschauer“ sehr beliebte Figur nach 17 Jahren stellen müssen. Gespielt wird die Neue von der amazonenhaften Florence Kasumba („Deutschland ‘86“), seit Jahren ein wiederkehrendes Gesicht in deutschen Krimis („Tatort – Der illegale Tod“), aber auch in Hollywood („Black Panther“) keine Unbekannte. Diese Anais Schmitz erweist sich zunächst als ein harter Brocken. „Es geht manchmal mit mir durch – mangelnde Impulskontrolle“, erklärt nach einem handfesten Ausraster Schmitz selbst der neuen Kollegin den Vorfall. Später dann wird Lindholm – nachdem sich die Frauen ordentlich angegiftet haben – immer wieder dazwischengehen, wenn Schmitz zu heftig beim Ermitteln ihr Mütchen zu kühlen versucht.

Lindholm wird von den neuen Kollegen gedrängt, etwas über sich zu sagen.
„Ich arbeite lieber allein, Kommunikation ist nicht so mein Ding – und Teamwork auch nicht. Ich habe Probleme, mich auf das Tempo und die Befindlichkeiten einzustellen, und ich habe ein Problem mit Kollegen, die nicht auf meinem Niveau ermitteln, und – damit Sie es genau wissen – in zwei Wochen bin ich wieder weg.“

Tatort – Das verschwundene KindFoto: NDR / Christine Schröder
Wer bringt an einem solchen Ort sein Kind zur Welt? Dieser „Tatort“ verlangt nicht nur weiblichen Zuschauern emotional viel ab. Luc Feit, Maria Furtwängler und Florence Kasumba

Die Zukunft dieses „Tatort“-Doppels kann spannend werden. Kopf vs. Körper, Verstand vs. Emotion, hohe Kontrolliertheit vs. Aggressionsschübe – solange diese Gegensätze nicht zu deutlich von den Drehbuchautoren bedient werden, ist es ein vielversprechendes Duo. Allein der optische Kontrast, schwarz/weiß, dunkel/hell, kahlköpfig/langhaarig, wenn er markant und sinnlich eingefangen wird, „erzählt“ schon genug von der Verschiedenheit der beiden. In „Das verschwundene Kind“ sind noch die typischen Kinderkrankheiten zu erkennen, die häufig auftreten, wenn in Krimis neue Kollegen aufeinandertreffen oder einer Reihe ein Neustart verordnet wird. Dass es ein paar Dialoge geben muss, die dem Zuschauer die Veränderung und die Befindlichkeit der Hauptfigur erklären, ist verständlich. Doch weshalb müssen innerhalb weniger Minuten Informationen (Lindholms angestrengter Prozess gegen den Arbeitgeber) gedoppelt werden? Nicht glücklich ist auch die Art und Weise, wie die Tatsache, dass Lindholm ihren Sohn in der Obhut ihrer Mutter lässt, ins Bild gerückt wird. Ein intelligent gesetzter Satz hätte es erstmal auch getan. Und dass Charlotte Lindholm Mutter ist und dieser Fall sie deshalb auch ganz besonders mitnimmt, daran hätte man nicht mit einem ansonsten völlig überflüssigen Telefonat erinnert werden müssen, ein Foto, das sie sich nachts neben ihrem provisorischen Nachtlager in einem Wohnwagen aufstellt, hätte es auch getan. Und auch an Lindholms Vorstellung ihrer Person vor den neuen Kollegen (siehe den roten Kasten) dürften sich die Geister scheiden. Dagegen ist das Missverständnis, dass Lindholm Schmitz für eine Putzkraft hält, verhältnismäßig beiläufig in Szene gesetzt; es ist aber in der Folge mit verantwortlich dafür, dass die beiden Frauen erst einmal nicht gute Kolleginnen werden.

„Über Mütter, die ihr Baby ablehnen, fällt man sofort ein hartes Verdikt. Damit verbunden ist der Unglaube, dass es möglich sein kann, eine Schwangerschaft bis zur Entbindung so komplett zu verdrängen, dass sie auch für die Umwelt nicht sichtbar wird. Aber unsere Recherchen haben gezeigt, dass Schwangerschaften abgespalten werden können … In unserem Film hat das sehr junge Alter der Julija es einfacher gemacht, ihre Not darzustellen. Wir wollten dem Zuschauer eine Brücke zur Empathie bauen. Für uns war es wichtig, dass diese Figur nicht vom Zuschauer verurteilt wird, sondern dass er bereit ist, bei ihrer Geschichte mitzugehen.“ (Franziska Buch, Regisseurin und Ko-Autorin)

Tatort – Das verschwundene KindFoto: NDR / Christine Schröder
Lange bleibt unklar, wer das Mädchen geschwängert hat. Ein Lehrer? Ein Schüler? Oder ihr Halbbruder? Ist das noch eine „normale“ Form von Geschwisterliebe? Der vorbestrafte Nino (Emilio Sakraya) kümmert sich rührend um Julija (Lilly Barshy).

Was von diesem 1083. „Tatort“ vorerst sogar noch mehr in Erinnerung bleiben dürfte als die Tatsache, dass nach 48 Jahren die erste schwarze Kommissarin in diesem Format ermittelt, sind das Thema „negierte Schwangerschaft“ und die Umstände, wie die von der Geburt überraschte Teenagermutter ihr Kind zur Welt bringt: in einer abbruchreifen, völlig verdreckten Umkleidekabine eines Schulsportplatzes. Massenweise Blut – und dann zieht auch noch Lindholm die Plazenta plus Nabelschnur aus der verstopften Toilette. Die Bilder und das Thema regen gleichermaßen die Phantasie des Zuschauers an: Was für Qualen muss dieses Mädchen ausgestanden haben. Wie groß muss der Druck des religiösen Vaters gewesen sein. Doch warum weigert sich die junge Frau, von ihrem Bruder ins Krankenhaus gebracht zu werden, und weshalb kann sie ihr Kind nicht annehmen? Im NDR-Presseheft spricht die ärztliche Fachberaterin für den Film von jährlich etwa 1600 nicht oder erst spät wahrgenommenen, sogenannten verdrängen Schwangerschaften in Deutschland. Auch das alles gehört zur Qualität des Films: die Zuschauer mit einem solchen Phänomen vertraut zu machen, sie zu sensibilisieren für seelische Prozesse und zwischenmenschliche Ausnahme-Situationen. Im Gegensatz zum sensiblen Thema, das vor allem weiblichen Zuschauern emotional viel abverlangt, sind allerdings Zeichensprache und Dramaturgie des Films von „Tatort“-Novizin Franziska Buch wenig diffizil geraten, besonders in den Details. Auf der Suche nach der größtmöglichen Wirkung für ein breites Publikum schrecken die drei(!) Autoren vor Handlungsstereotypen nicht zurück. Dazu gehört unter anderem das beschriebene Muster, wie sich die Kommissarinnen anfeinden, oder der Knalleffekt nach überlanger Vorbereitung, dass der sympathische Pathologe ausgerechnet der Mann dieser schwarzen Furie ist; aber auch auf der Zielgeraden reiht sich ein dramaturgisches Versatzstück ans andere. Dem Handlungsfluss tut diese überkommen wirkende Krimi-Rhetorik jedoch keinen Abbruch. In Kombination mit der schicksalhaften, sehr bewegenden Geschichte macht dieser „Tatort“ von Anfang an neugierig, und er bleibt bis zum Ende spannend. (Text-Stand: 12.1.2019)

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Reihe

NDR

Mit Maria Furtwängler, Florence Kasumba, Emilio Sakraya, Lilly Barshy, Merab Ninidze, Oliver Stokowski, Daniel Donskoy, Luc Feit, Steve Windolf, Zora Müller, Oskar Belton

Kamera: Konstantin Kröning

Szenenbild: Iris Trescher

Kostüm: Katja Waffenschmied

Schnitt: Andrea Mertens

Musik: Johannes Kobilke

Redaktion: Christian Granderath, Sabine Holtgreve

Produktionsfirma: filmpool fiction

Produktion: Iris Kiefer

Drehbuch: Jan Braren, Stefan Dähnert, Franziska Buch

Regie: Franziska Buch

Quote: 9,77 Mio. Zuschauer (26,5% MA)

EA: 03.02.2019 20:15 Uhr | ARD

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