Als der MDR vor drei Jahren den „Tatort“ aus Dresden startete, war die Ausrichtung deutlich komödiantisch. Im Auftaktfilm „Auf einen Schlag“ kam zwar eine junge Polizeianwärterin ums Leben, aber der Krimi wirkte dank der vielen Seitenhiebe aufs Volksmusikmilieu stellenweise wie eine Parodie. Auch die zweite Episode, „Der König der Gosse“, war mit ihren Anleihen bei „Warten auf Godot“ eher skurril als spannend, zumal Martin Brambach seine Rolle als Chef der Mordkommission mehr und mehr als komische Type interpretierte. Aber dann wandelte sich der Tonfall. In „Déjà-vu“ (2018) suchten die Oberkommissarinnen Sieland (Alwara Höfels) und Gorniak (Karin Hanczewski) einen Kindermörder, und ihr Chef outete sich recht unverblümt als Pegida-Sympathisant, in „Wer jetzt allein ist“ (2018) ließen sich die Ermittlerinnen auf ein gewagtes Spiel ein, um einen Frauenmörder zu überführen; es war Sielands letzter Fall. Zur Einführung ihrer Nachfolgerin, Leonie Winkler (Cornelia Gröschel), lässt der „Tatort“ aus Dresden endgültig jede Form von Heiterkeit hinter sich: „Das Nest“ ist nichts für schwache Nerven und außerdem die Einlösung eines Versprechens.
Foto: MDR / Daniela Incoronato
Die Handlung beginnt im typischen „Falsch abgebogen“-Stil. In diesem Subgenre des amerikanischen Horrorfilms landen Menschen irgendwo im Hinterland in einem Horrorhaus: Eine junge Frau hat einen Autounfall auf einer Landstraße, sucht Hilfe, kommt zu einem einsam gelegenen leerstehenden Hotel, beobachtet einen Mann bei einer äußerst finsteren Beschäftigung und kann unbemerkt fliehen. Die alarmierte Polizei entdeckt kurz drauf ein regelrechtes Leichennest: lauter ausgeblutete und präparierte Körper, liebevoll zu Alltagsszenen arrangiert. Die Ermittler ahnen, dass der Mörder zurückkehren wird, und stellen ihm eine Falle, aber der neuen jungen Kollegin versagen im entscheidenden Moment die Nerven; Gorniak wird lebensgefährlich verletzt.
Der Film nimmt sich 15 Minuten Zeit für diese Einführung und zieht alle Register des Hochspannungs-Thrillers. Licht, Kamera und Musik sorgen im Zusammenspiel für Nervenkitzel auf einem Niveau, das fast nicht mehr jugendfrei ist; nicht wegen der Bilder, sondern wegen der hohen Anspannung, die Regisseur Alex Eslam zu erzeugen versteht. Der Name wird selbst Experten nicht viel sagen, und daran ist ProSieben schuld. Sein Regiedebüt „Bissige Hunde“ ist in Zusammenarbeit zwischen dem Sender und der Filmakademie Ludwigsburg entstanden, aber trotz namhafter Besetzung (unter anderem Karin Hanczewski) 2015 auf Sixx versendet worden; dabei war der Film eine gerade für ein Erstlingswerk erstaunlich stilsichere Thrillertragödie, die sich nicht zuletzt durch eine herausragende Bildgestaltung auszeichnete. Für „Das Nest“ gilt das nicht minder. Der Kameramann ist der gleiche: Carlo Jelavic. Für den „Tatort“ hat er ein Licht kreiert, das auch eines Kinofilms würdig wäre. Dogma-Freunde werden über die rauchgeschwängerte Luft im Prolog zwar die Nase rümpfen, aber das Strahlen der Taschenlampen sieht auf diese Weise richtig gut aus.
Foto: MDR / Daniela Incoronato
Bei den Revierszenen liegt ebenfalls ein leichter Dunst in der Luft. Hier haben Jelavic und Eslam für einen Graugrünstich gesorgt. Auf diese Weise ist die Atmosphäre wenig anheimelnd, was exakt der Stimmung der jungen Kommissarin entspricht: Sie hat’s verbockt. Gorniak ist zwei Monate später zwar wieder im Dienst, hat sich nach ihrem traumatischen Erlebnis aber in die Asservatenkammer versetzen lassen; Bob Dylans „Shelter from the Storm“ (Schutz vor dem Sturm) liefert die passende Musik für den Rückzug in den Keller. Weil Winkler nicht weiter weiß, bittet sie die Kollegin um Hilfe. Die hat zwar keine große Lust und darf wegen Befangenheit offiziell ohnehin nicht ermitteln, entdeckt auf den Fotos der Leichen jedoch verräterische Details. Ein paar Recherchen später gibt es zwei Verdächtige, darunter den Klinikarzt Mertens, und weil er von Benjamin Sadler verkörpert wird, tut der Film gar nicht erst so, als sei ein Unschuldiger ins Visier der Polizei geraten: Mertens tötet den zweiten Mann, lässt die Leiche verschwinden und sorgt dafür, dass der andere als Mörder erscheint. Der Fall scheint gelöst, es gibt Applaus für Winkler; bloß Gorniak ahnt, dass das viel zu glatt ging. Nun entwickelt sich ein Katz-und-Maus-Spiel, bei dem die Polizistin keine Chance zu haben scheint, auch wenn ein brillanter optischer Einfall das Gegenteil suggeriert: Als sich die Kommissarin in der Asservatenkammer eine Waffe besorgt, entsprechen ihre im Gegenlicht gefilmten Konturen exakt einer Aufnahme des Mörders im Prolog.
Erol Yesilkaya liefert seit einigen Jahren die Vorlagen zu hochklassigen Sonntagskrimis, bei denen meist Sebastian Marka Regie führt; zu ihren besten Filmen gehören unter anderem „Die Wahrheit“ (2016), ein verstörender Krimi über die Machtlosigkeit der Polizei und einer der besten „Tatort“-Beiträge aus München überhaupt. Es folgte der Serienmörder-Thriller „Es lebe der Tod“, ein Tukur-„Tatort“, und vor einem Jahr „Meta“; die raffinierte „Film im Film“-Konstruktion trieb ein äußerst cleveres Spiel mit dem „Tatort“-Team aus Berlin. Der vor einigen Wochen ausgestrahlte perfide Rache-Thriller „Ein Tag wie jeder andere“, ein „Tatort“ aus Franken, war ebenfalls von dem Duo. Mit Eslam scheint Yesilkaya, von dem auch das Drehbuch zum letzten Dresdener Fall stammte, einen weiteren Seelenverwandten gefunden zu haben. Ins Spiel gebracht wurde der Regisseur vermutlich vom Produktionsteam: Wiedemann & Berg haben auch „Bissige Hunde“ hergestellt. Schon das Debüt zeugte von einer erstaunlichen visuellen Kraft und Reife, die Eslam nun mit „Das Nest“ bestätigt. Die Arbeit mit den Schauspielern ist von der gleichen Qualität. Die Idee, den gern als Frauenschwarm besetzten Benjamin Sadler als Mörder zu engagieren, ist zwar nicht neu (zuletzt im Kroatien-Krimi „Mord auf Vis“, 2018), aber trotzdem wirkungsvoll, zumal er den Täter mit freundlichem Blick und großer Gelassenheit versieht.
Foto: MDR / Daniela Incoronato
Soundtrack: Neil Young („Harvest Moon“), Bob Dylan („Shelter From The Storm”), Dinah Washington („What A Difference A Day Makes”), Engelbert Humperndinck („The Way It Used To Be”)
Ähnlich bedeutsam wie der Anteil von Kameramann Jelavic ist der Score von Michael Kadelbach: Die Komposition kommt ohne Melodie und Rhythmus aus, sorgt aber für ein permanentes Gefühl der Bedrohung. Überflüssig auf der Tonspur ist allein Winklers ständiges Spiel mit dem Feuerzeug. In einer Szene ist es sinnvoll eingesetzt, als das typische „klack, klack, klack“ der Verschlusskappe nach dem Prolog den Takt für die Zusammenfassung der Fakten vorgibt, aber im Rest des Films ist es bloß eine nervöse und etwas aufdringlich wirkende Erinnerung: Die junge Kommissarin ist die Tochter eines allseits bewunderten Kriminalisten (Uwe Preuss), der nicht glaubt, dass sie das Zeug zur guten Polizistin hat. Sein Feuerzeug dient am Ende natürlich auch als Beleg dafür, dass Leonie nun, wie sie anfangs keck verkündet hat, in der Tat ihre eigenen Fußstapfen hinterlassen wird. Als Bild ungleich eindrucksvoller ist allerdings die Trauer im Blick des Vorgesetzten, als ihm klar wird, dass sich das Finale gänzlich anders abgespielt hat, als seine beiden Mitarbeiterinnen dies in ihrem Bericht geschildert haben. (Text-Stand: 9.4.2019)