Ein Mann schleppt bei Regen eine Leiche durch den nächtlichen Wald, legt sie auf eine große Plane, holt mit einem Beil aus, schlägt im Lichtschein zuckender Blitze zu. Die gut verschnürten Pakete mit den Leichenteilen packt er in seinen Wagen. Dann sieht man – mittlerweile bei Tageslicht – eine Frau in einer schicken Villa. Sie wartet, blickt auf die Uhr. Im Fernsehen läuft „Talk Jansen“. Der Moderator interviewt eine junge Frau, deren Traum von einer Model-Karriere scheiterte. Nach einem weiteren Schnitt wechselt die Perspektive wieder: Der Täter legt Pakete neben einem Container ab, fährt weiter. Als er seinen Wagen an einer roten Ampel stoppen muss, schlägt er die Kapuze seines Regenmantels zurück: Es ist Maarten Jansen (Barry Atsma), der Talkshow-Moderator. Als er zu Hause vorfährt, hört man ihn im Fernsehen sagen: „Sie haben im richtigen Moment die richtige Entscheidung getroffen.“ Applaus im Studio. Seine Frau Kirsten (Stephanie Eidt) dagegen ist verärgert, weil er so spät vom Joggen heimkehrt und ihren Termin vergessen hat.
Nach dieser düsteren Einführung, die bereits Wesentliches verrät, springt die Handlung in ein Polizeibüro. Jansen ist freiwillig gekommen, offenbar ist zu diesem Zeitpunkt die Leiche bereits gefunden worden, aber er steht nicht unter Verdacht. Das Gespräch zwischen Anna Janneke (Margarita Broich) und Jansen wird nun zum roten Faden. Zwischen den meist knappen Kammerspiel-Szenen rollen Drehbuch und Inszenierung den Fall ganz klassisch auf, beginnend beim Fund der abgetrennten Beine und Arme eine Woche zuvor in einem Baucontainer in Frankfurt. Schnell findet die Polizei heraus, dass es sich bei dem Toten um Luke Jansen, den 17 Jahre alten Stiefsohn von Maarten Jansen, handelt. „Das war ein Monster“, erklärt der prominente Fernsehmoderator den wartenden Reportern vor seinem Privathaus. Niemand würde annehmen, dass er selbst dieses „Monster“ sein könnte.
„Das Monster von Kassel“, wie der mittlerweile neunte Fall des Frankfurter „Tatort“-Teams heißt, ist allerdings uns Zuschauern bekannt. Oder doch nicht? Möglich wäre immerhin, dass Maarten Jansen seinen Stiefsohn nicht selbst tötete, sondern dass er nur die Leiche entsorgt hat. Aber es darf hier durchaus verraten werden, dass diese Theorie keine Rolle spielen wird. Denn nicht die Frage, wer der Täter war, steht im Mittelpunkt, sondern warum diese Tat geschehen ist. Statt einer verwickelten Handlung mit verschiedenen Tatverdächtigen, geht es vor allem ums Motiv, um den Charakter des Täters und natürlich um die Frage, ob und wie die Polizei ihn überführen kann. Das reicht allemal für ein intensives Krimidrama mit einer finsteren Hauptfigur. Alles kreist in der von Stephan Brüggenthies und Andrea Heller geschriebenen Geschichte um diesen Maarten Jansen, der doch alles zu haben scheint, was ein Mann nur erreichen kann. Er ist erfolgreich, populär, wohlhabend, lebt mit einer attraktiven Frau und zwei Söhnen in einem prächtigen Haus.
Aber der mediale Schein und das wahre Sein liegen hier weit auseinander. Mindestens ebenso verstörend wie der physische Akt des Zerstückelns der Leiche ist die kühle Berechnung, mit der Jansen vorgeht. Barry Atsma kann hier nahtlos an seine Rolle als Investmentbanker aus „Bad Banks“ anknüpfen, nur dass dieser Maarten Jansen nicht ganz so charismatisch, dafür aber umso abstoßender ist. Ein Höhepunkt ist Jansens zynischer Auftritt in seiner Talkshow, die er nach Bekanntwerden des gewaltsamen Todes seines Stiefsohns keineswegs ausfallen lassen will. Die Tränen, die rührseligen Worte – alles falsch, alles gespielt. „Sie dürfen nicht alles glauben, was in der Zeitung steht“, sagt Janneke einmal zu Jansen. Dass der Emotionsschleuder Fernsehen auch nicht zu trauen ist, wird hier schön ätzend vorgeführt.
Obwohl der Täter also bekannt und das Publikum den Kommissaren voraus ist, entwickelt die Inszenierung unter der Regie von Umut Dağ („Das deutsche Kind“ / „Tatort – Sonnenwende“) einen beachtlichen Sog. Kaum zu glauben, dass dieser höfliche, kultivierte Jansen eine solch ungeheure Tat begangen haben soll, doch Barry Atsma braucht nur wenige Blicke und Gesten, um den Schleier, hinter dem sich Abgründe auftun, für kurze Momente zu heben. Die Nuancen in seinem Spiel fängt die famose Kamera von Carol Burandt von Kameke in ruhigen Einstellungen ein. Überzeugend auch das Wechselspiel zwischen den kammerspielartigen Gesprächsszenen und der klassischen Ermittlungsarbeit; beide Stränge greifen sinnvoll und flüssig ineinander. Außerdem bringt die Befragung Jansens mal wieder den eigentlichen Beruf Jannekes zur Geltung: Als Polizeipsychologin ist sie gefordert, hinter die Fassade zu blicken, erst im Finale greift auch Kollege Brix (Wolfram Koch) ins Verhör ein. Und weil das Frankfurter Team hier ein Gastspiel am Wohnort der Jansens in Kassel gibt, hat das Publikum das Vergnügen, Christina Große in der Rolle der Kasseler Kommissarin Constanze Lauritzen zu sehen. Die hübschen Ansichten von der Stadt, dem Bergpark Wilhelmshöhe und der Herkules-Statue, die über allem thront, werden durch die ätzenden Bemerkungen des Frankfurters Brix über Kassel („Hessisch Sibirien“) konterkariert. Oder umgekehrt. Mit einigen humorvollen Spitzen tun sich hier jedenfalls innerhessische Gräben auf.
Dennoch geht die Sache nicht vollständig auf: Das Verführerische der Hauptfigur kommt trotz des gut aussehenden Niederländers Barry Atsma kaum zur Geltung. Die kalte Fassade des Bösen besitzt nicht die Faszination, um einen mit- oder gar hin und her zu reißen zwischen Abscheu & Sympathie. Und was genau hatten Autoren und Redaktion mit dem sonderbarsten Chef der deutschen Fernsehkrimi-Szene vor, dem von Bruno Cathomas gespielten Fosco Cariddi? Als eine Anti-Figur von Chef, die Gedichte und geistreiche Sprüche auf Lager hat oder auch mal Plattitüden raushaut („Manchmal muss man in die Ferne ziehen, um zu sich selbst zu finden“ – Gegenfrage von Brix: „In Kassel?“), ist dieser Cariddi ganz sympathisch. Ein schillernder Fremdkörper, von dem man nur nicht recht wusste, was er in dieser Krimi-Reihe zu suchen hatte. Diesmal verkündet er nach einem Tänzchen mit Fanny (Zazie de Paris), er werde seinen Dienst niederlegen, weil er ein einjähriges Stipendium für deutsche Poetik in Brasilien bekommen habe. Da ist dann wohl wieder eine Stelle frei im „Tatort“-Kosmos.