Kleinlauter Karow erklärt seine Nachbarwohnung kurzerhand zum Tatort
Karow (Mark Waschke) hat wochenlang Wand an Wand mit einer Leiche gelebt. Da macht sich selbst ein routinierter Großstadtwolf wie er so seine Gedanken. Bei dem Toten handelt es sich um einen 67jährigen Rentner. „Das ist nicht schön, kommt aber leider jeden Tag vor“: Nina Rubin (Meret Becker) kann die Betroffenheit ihres Kolle-gen zwar nachvollziehen, aber aus dem Todesfall gleich einen Mord machen zu wollen…!? Die Leiche ist allerdings ausgetrocknet – und es gibt Indizien dafür, dass diese Mumifizierung möglicherweise vorsätzlich herbeigeführt wurde. Und dann entdeckt die neue Gerichtsmedizinerin (Cynthia Micas) einen winzigen Einschuss im Genick. Das Todesszenario sieht nun ganz nach einer Hinrichtung aus. Karow hatte recht; doch für ihn kein Grund zum Triumphieren. Im Gegenteil. Der sonst so arrogant-abweisende Kommissar sucht die Kraft in der Ruhe, indem er sich von der Horrorwohnung nebenan inspirieren lässt – vom Leichengeruch, von den Fliegen, die von den zigtausenden die Spurensicherung überlebt haben, von dem Kruzifix des toten Nachbarn.
„Nirgendwo in Deutschland leben und sterben so viele Menschen alleine wie in Berlin. Was passiert, wenn ein Mensch inmitten dieser Millionenstadt verstirbt, so einsam, dass er nicht einmal als vermisst gemeldet und erst nach Wochen aufgefunden wird?“ (Drehbuchautorin Sarah Schnier)
Drama-Kunst statt Krimi-Realismus, parallel erzählt in vier Handlungssträngen
In „Das Leben nach dem Tod“, dem zehnten „Tatort“ mit Meret Becker und Mark Waschke, ersetzen immer wieder subjektive Eingebungen das klassische Ermitteln. Autorin Sarah Schnier, Expertin für Dramödie („Mona kriegt ein Baby“), Komödie („Barfuß bis zum Hals“) und erst seit Neuestem auch im Krimifach („Der Usedom-Krimi – Strandgut“) unterwegs, verzichtet in ihrem ersten Drehbuch für einen „Tatort“ weitgehend auf das übliche realistische Kleinklein der Polizeiarbeit zugunsten eines dramatisch-atmosphärischen Überbaus. Dabei bietet sie von Beginn an dem Zuschauer vier Erzählstränge nebeneinander an. Karow und Rubin ermitteln einmal mehr lange Zeit jeder für sich allein: Er fühlt sich ein in die Sphären des Todes, sie nimmt sich die Olschewski (Karin Neuhäuser), die sehr geschäftstüchtige Vermieterin der Leichenfund-Wohnung, zur Brust. Bereits in der Eingangsszene begegnet einem ein alter Mann (Otto Mellies), etwas tattrig und schlecht zu Fuß, der beim Öffnen seiner Wohnungstür von zwei Mädchen überfallen und ausgeraubt wird. Wenig später werden Hajo Holzkamp (Christian Kuchenbuch) und seine Frau Liz (Britta Hammelstein) eingeführt, deren Ehe sich zwischen euphorischen Liebesbekenntnissen („Wir brauchen keine Therapie; wir haben uns“) und unkontrollierbaren Wutausbrüchen mehr und mehr als eine Borderline-Beziehung entpuppt. Weil Hajo Holzkamp für Olschewski die Reinigungsarbeiten in deren Wohnungen übernimmt, gerät das Paar in die Nähe des Toten. Aber die beiden kennen den ermordeten Rentner ohnehin; diesen verbindet mit Hajo eine tragische DDR-Vergangenheit. Und auch der überfallene Greis, ein typischer Wendeverlierer, kommt aus dem Osten und war dort einst ein hohes Tier. Nach einer knappen Stunde finden die vier Handlungsstränge zusammen. Und nebenbei wird ein heute nahezu unbekanntes Kapitel der DDR-Geschichte aufgeschlagen: In der sozialistischen Vorzeige-Republik gab es bis 1987 die Todesstrafe.
Regisseur Florian Baxmeyer über den RBB-„Tatort“: „Sarah Schnier hat eine spannende und komplexe Ge-schichte geschrieben, die sehr klug die Grundfragen nach Schuld und Sühne stellt und gleichzeitig den von vielen Ostdeutschen zu Recht als überheblich und ungerecht empfundenen Umgang der Bundesrepublik mit der DDR nach der Wende thematisiert. Daneben hat mich die Ein-samkeit Karows interessiert, der in diesem Fall in seinen Grundfesten als Ermittler erschüttert wird, nachdem er nicht bemerkt hat, dass sein Nachbar ermordet wurde. Es waren gerade diese einsamen, stummen Szenen mit Karow die mich und die Kamerafrau Eva Katharina Büh-ler cineastisch herausgefordert haben.“
Zum Niederknien: der zärtlichste Moment für das unkonventionelle Duo
Im Schlussdrittel machen Karow und Rubin erstmals richtig gemeinsame Sache. In „Das Leben nach dem Tod“ gibt es eine Schlüsselszene zwischen den beiden, die an Mitgefühl und Intensität kaum zu überbieten ist. Karow, mal wieder in der Wohnung des Todes zu Gast, bekommt Besuch von seiner Kollegin. Er ist sichtlich angefasst von den Begleitumständen des Falls. Wegen der Y-Form des Kruzifixes hat der ungläubige Kommissar sogar Jesus‘ Kreuzigungsgeschichte akribisch recherchiert. Sanft trägt auch die Jüdin Rubin dazu etwas bei: „Die Zeit zwischen Tod und Begräbnis ist für die Seele verwirrend.“ Wirkt die Religionskunde hier zunächst etwas überambitioniert, so ist das, was zwischen den stets etwas unnahbaren Kommissaren abläuft (sie mag’s gern schnoddrig, er ist ein Geheimnis auf zwei Beinen), das emotional Wesentliche in dieser Szene. Beide stimmen bald ein in ein offenbar jüdisches Ritual. Rubin reißt ihr T-Shirt ein. „Das ist ein Ausdruck der Trauer“, sagt sie, „für die Seele des Verstorbenen ist es tröstlich, wenn die Liebenden Anteil nehmen.“ Daraufhin reißt auch Karow sein T-Shirt ein. Beide lächeln milde. „Machen Sie das dann auch für mich – wenn ich nicht mehr da bin?“, fragt der Kommissar. „Du bist nicht alleine, Karow.“ Was für ein Satz, was für ein Blick. Es folgt eine Lobrede auf Rubin. Karow: „Sie sind die beste Polizistin, die ich kenne.“ Wenig später – ausgehend von Meret Beckers Figur – kommt es zu einer innigen Umarmung. Es ist die intimste gemeinsame Szene der beiden in den bisherigen „Tatort“-Episoden, und es wird wohl auch der zärtlichste Moment für das unkonventionelle Duo bleiben, das 2022 mit dem Abgang Beckers Geschichte sein wird: narrativ nachhaltig und von beiden Schauspielern gleichermaßen zum Niederknien gespielt.
„Eine der größten Herausforderungen dieser Dreharbeiten war es sicher, dass wir mit 200.000 Fliegen und Eimern voller Maden gedreht haben. Als letztere dann auch noch geschlüpft sind waren es schätzungsweise 240.000 Fliegen in der Wohnung.“ (Florian Baxmeyer)
Die Ikonografie der Einsamkeit und ein düsterer, sehr stilsicherer Bilderfluss
Auch sonst dominieren in diesem „Tatort“ die Drama-Szenarien über die kriminalistischen Strukturen. Der Film besticht entsprechend stärker durch seine psychologisch-atmosphärische Spannung als durch den klassischen Krimi-Suspense. Dabei sind die Situationen und Subplots auch filmisch vorzüglich – sprich: assoziativ, offen und stimmungsvoll – aufgelöst. Regisseur Florian Baxmeyer und Kamerafrau Eva Katharina Bühler erschaffen eine Ikonografie der Einsamkeit und einen düsteren, sehr stilsicheren Bilderfluss. Das Outdoor-Berlin spielt in „Das Leben nach dem Tod“ eine untergeordnete Rolle; und wenn es zu sehen ist, dann herrscht nasskaltes, ungemütliches Schmuddelwetter vor. Für die erzählten Innenwelten ist ein fein akzentuiertes Spiel dafür von umso größerer Bedeutung: bei Becker und Waschke ist es hoch konzentriert und zurückgenommen, bei Kuchenbuch und Hammelstein – entsprechend der posttraumatischen Belastungsstörung – lauter, wilder, emotionaler, eine Art Stimmungsachterbahn, und bei Otto Mellies als frustriertem (ewig gestrigem?) Verfechter eines autoritären Systems gewollt überbetont und bewusst pathetisch. Das alles ergibt das richtige Depri-Futter für angeschlagene Novemberseelen. (Text-Stand: 14.10.2019)