Im September liegen bereits die Lebkuchen im Supermarkt, der erste Glühwein wird ausgeschenkt. Weihnachten wird immer früher eingeläutet. Nicht nur im Geschäftsleben, sondern auch auf dem Bildschirm. Sagt sich zumindest die ARD. Denn das Erste wartet jetzt bereits am 1. November – Allerheiligen – mit einem Weihnachts-Tatort auf. So ermitteln Frau Blum und Kollege Perlmann in „Cote d‘Azur“ in Konstanz am Bodensee zwischen „Stille Nacht“ (zum Einstieg) und „Oh du Fröhliche“ (zum Finale) im Mordfall an einer jungen Frau.
Spannung zum Einstieg! Die Kamera treibt eine junge Mutter samt Kinderwagen nachts durchs Schilf. Dann ist sie tot, erschlagen von einem Weihnachtsmann. Zumindest trägt der ein solches Kostüm. Er schickt nach der Tat mit ihrem Handy eine SMS an die Polizei: „Ich bin tot. Schilf am Ende vom Winterer Steig. Kümmern Sie sich um mein Baby. Bitte schnell.“ Kommissar Perlmann (Sebastian Bezzel) deutet das falsch, vermutet den kleinen Wurm in der Wohnung der Mutter. Ein fatales Missverständnis, das erst seine in den Morgenstunden herbeieilende Chefin Klara Blum (Eva Mattes) aufklärt. So wird die Kleine gesucht, gefunden und mit starken Erfrierungen vom Notarzt Dr. Schwenkner (Barnaby Metschurat) in die Klinik eingeliefert. Die Blum tadelt den Kollegen, die Ärzte kämpfen ums Überleben des Babys und Perlmann verharrt Stunde um Stunde am Bett des Buben, der den Namen Alex trägt.
Die Ermittlungen führen das Südwest-Duo nicht an die Cote d‘Azur, sondern in die Cote d‘Azur. Ja. Denn so nennt eine Gruppe selbstorganisierter Obdachloser ihre notdürftig hergerichtete Barracke. Franzi (Friederike Linke), Urs (Peter Schneider), Lucky (Kai Malina) und Bill (Frank Fink) kämpfen dort mit billigem Wein gegen die Winterkälte an, das Geld dafür verdienen sie im Weihnachtsmannkostüm mit Klingelbüchsen für „gefährdete Orang-Utans“. Zur Gruppe gehört auch der abgestürzte Ex-Kommissar Hagen (Andreas Lust). Alle kannten Vanessa gut. Bevor sie ermordet wurde, hatten sie noch gemeinsam getrunken. Warum die Hartz-IV-Empfängerin im Besitz von Schmuck und teurer Kleidung war, können sie sich alle nicht erklären. Die Gegenstände führen Blum und Perlmann bald zu dem exzentrischen Musikmanager Jürgen Evers (Markus Hering), bekannt als „Hitmaschine von Konstanz“.
Was auf den ersten Blick wie ein Logikfehler aussieht – Mord und Hinweis auf Fundort der Leiche um ein Uhr nachts, Tatort-Besichtigung bei Tageslicht (im Winter also wohl gegen 8.00 Uhr) –, entpuppt sich schnell als dramaturgischer Kniff, um Kai Perlmann im neuen Bodensee-Fall eine besondere emotionale Herausforderung zu geben. Denn seine Fehldeutung der SMS bringt einem Baby beinahe den Tod. Ein gelungener Dreh von Drehbuchautor Wolfgang Stauch, der im weiteren Verlauf des Krimis einen klassischen Whodunit-„Tatort“ bietet. Er erzählt von Menschen am Rande der Gesellschaft, jeder mit einer ganz eigenen Geschichte – schließlich ganz unten, hier liebevoll „Cote d‘Azur“ genannt, angekommen.
Der Autor spielt mit bekannten Bildern, ohne aber in eine schlichte Aneinanderreihung üblicher Sozial-Klischees zu verfallen. Diese Gestrauchelten haben Würde und zeigen soziales Verhalten, helfen sich gegenseitig – zumindest auf den ersten Blick. Der „Tatort – Cote d‘Azur“ ist die bereits sechste gemeinsame Arbeit von Stauch mit Regisseur Ed Herzog (drehte zuletzt die erfolgreichen bayerischen Krimikomödien „Dampfnudelblues“ und „Winterkartoffelknödel“). Das Duo hat schon beim „Polizeiruf 110 – Die Gurkenkönigin“, dem „Tatort – Die schöne Mona ist tot“ oder dem ZDF-Krimi „Unter Verdacht – Brubeck“ zusammengearbeitet. Herzog versteht es, das aufzunehmen, was Stauch anbietet. Und so findet der Regisseur passend-prägnante Bilder zu diesem Sozialdrama im Krimi-Gewand. Wenig Action, viel Nähe und Liebe zu den Figuren prägen diesen Bodensee-„Tatort“.
Das Ensemble ist stimmig, man verzichtet auf Starrollen, hat auf Augenhöhe besetzt. Das bringt bei der Tätersuche mehr Spannung. Die hält bis zum Ende. Macht Spaß, wenn man lange mit den Kommissaren im Dunkeln tappt, falsche Fährten angeboten bekommt und der Ausgang nicht vorhersehbar ist. Und Emotionen und Empathie gibt es reichlich in diesem Krimi. Zwei weitere Einsätze werden Eva Mattes und Sebastian Bezzel als Klara Blum und Kai Perlmann 2016 noch haben, dann ist Schluss. Mit dieser Folge sehnt man das Ende noch gar nicht so schnell herbei. Jahreszeitlich ein wenig zu früh angesiedelt bei der Erstausstrahlung, aber – wie gesagt – das Rennen um Weihnachten wird ja überall immer früher eröffnet.