Im Kieler Problembezirk Gaarden ist der „Hartzer“ Onno Steinhaus mit einem Hammer erschlagen worden. Der 60-Jährige, in dessen verwahrloster Wohnung die Kinder aus dem Block zum „Party machen“ – sprich: Abhängen, Saufen und Pornos gucken – ein und aus gingen, war vorbestraft wegen Kindesmissbrauch. Alle in der Siedlung wussten es. Alle schauten zu, wie diese unaufhaltsame Tragödie ihren Lauf nahm, sinniert Kommissar Borowski. Die meisten Eltern. Auch das Jugendamt. Auch der Polizeibeamte Torsten Rausch, der im Viertel den Platzhirsch gibt und sich auch „sexuell“ bedient. Aber auch die Kids wussten von „Onnos“ Vergangenheit – und sie schienen damit umgehen zu können. Dabei soll es einige Tage vor der Tötung zu einem sexuellen Übergriff gekommen sein. Der offenbar Missbrauchte, der 14jährige Timo Scholz, streitet allerdings alles ab. Weshalb gab es dann aber Schläge für den vermeintlichen Peiniger, wie ein Handy-Video beweist?
Nach Drogen-Exzessen in „Borowski und der Himmel über Kiel“ und Ego-Defekten in „Borowski und der Engel“ verschlägt es das Ermittler-Duo des „Tatort“ Kiel in dem Sozialkrimidrama „Borowski und die Kinder von Gaarden“ in eine Randzone der Gesellschaft, die beständig wächst: Die Kinderarmutsrate liegt in Deutschland bei 15,2 Prozent, in Kiel bei 28,7 Prozent und in Gaarden leben fast 60 Prozent der Kinder unter 15 Jahren in einkommensarmen Familien. Borowski und Brandt schlagen hart auf diesem Boden der Realität auf: Er bekommt zu spüren, dass seine Beamtenautorität hier nichts zählt; schon gar nicht im Umgang mit strafunmündigen Kindern. Und sie wird erinnert an ihre Herkunft, die sozialen Verhältnisse, unter denen sie aufwuchs und die nicht ganz einfach waren; jener Torsten Rausch ist ein Nachbar gewesen. Doch die Nähe zwischen den beiden nimmt ab, die Solidarität bröckelt in dem Maße, wie dieser Gaardener Sheriff Sarah Brandt seltsam vorkommt. Ist also „Rauschi“ doch kein Guter? Auch für Borowski gibt es einen Protagonisten, für den er sich besonders interessiert: Es ist ausgerechnet jener Timo Scholz, von dem alle glauben, dass er der Täter ist. Für den Kommissar ist er vor allem einer, der sich Gedanken macht: „Du kannst entweder alles falsch oder ganz falsch machen; richtig gibt’s hier nicht.“ Dieser „kleine Philosoph“ imponiert Borowski. Kann so einer ein Mörder sein?!
Eva Zahn über den Blick auf schwierige Kinder:
„Wenn ein Kind vernachlässigt wird, ist die Empörung groß. Aber sobald das Kind in die Pubertät kommt und Schwierigkeiten, wird seine Geschichte ausgeblendet, und es heißt: ‚Sperrt ihn ein!’ Die Zustände und Verhältnisse, die ihn dahin gebracht haben, spielen dann meistens keine Rolle mehr.“
Der „Tatort – Borowski und die Kinder von Gaarden“ ist ein Krimi aus dem Geiste eines realistischen Sozialdramas. Weil der Film von Florian Gärtner nach dem Drehbuch von Eva und Volker A. Zahn ein Krimi mit Rätselstruktur bleiben will, wird er zu einer dramaturgischen Gratwanderung. Retrospektiv betrachtet stimmen die psychologischen Motive und das Verhalten der Figuren über die 90 Minuten zwar weitestgehend – dennoch aber bremst der Whodunit das Thema aus und verhindert eine frühzeitige Vertiefung der Charaktere, insbesondere das düstere Geheimnis des Kiez-Cops wird erst 20 Minuten vor Schluss gelüftet. Entsprechend besitzt das Schluss-Viertel dieses „Tatorts“ die eindringlichsten Momente, weil die Dramaturgie nicht länger künstlich auf kleiner Flamme gehalten werden muss, es endlich ans Eingemachte geht: an die Psychologie der verwahrlosten Kinder.
Davor begnügt sich der Film lange mit dem Abbilden von Alltag, zeigt überforderte Erwachsene und vor allem eklatant vernachlässigte Sprösslinge in dieser Unterschicht-Wohnstätte, in der es Hunde besser haben als Kinder. In so einem Klima der Verwahrlosung und emotionalen Indifferenz ist das Ermitteln auch kein Zuckerschlecken. Eine Stunde lang verharrt der Film in dieser Situation und spiegelt damit ein Stück weit die aussichtslose Lage in diesem Problem-Viertel. Die Handlung ist mit dem Milieu auf Augenhöhe, allenfalls die Kommissare versuchen mit ihren „Spielchen“ zu provozieren und die Ermittlungen in Gang zu bringen. Das alles ist mit den sehr authentisch gecasteten, weitgehend unbekannten Kinder-Darstellern und mit Kameramann Gunnar Fuß’ realistisch anmutender Handkamera stimmiger Fernsehfilm-Realismus. Weil aber auf der Ebene der Geschichte Vieles nur angedeutet werden darf, bleibt das (Sozial-)Drama lange im distanzierten Zeige-Modus, aber auch der Krimi-Plot kommt schwer in Gang. Und die Interaktionen – egal, ob zwischen Brandt und Borowski oder zwischen der Kommissarin und dem Revier-Hengst – wirken oft spröde, und einigen Szenen merkt man zu deutlich an, weshalb sie ins (gut recherchierte) Drehbuch Eingang fanden.
Florian Gärtner über die Besetzung der Kids:
„Die Jungs sind eine Mischung aus erfahrenen Darstellern und Neulingen, aber alle kannten sie das Leben auf der Straße. Die wissen, wie man sich dort bewegt, welche Sprache dort gesprochen wird, wie man miteinander agiert. Die reproduzieren nicht etwas, was sie nur aus dem Fernsehen kennen.“
Und so ist „Borowski und die Kinder von Gaarden“ mit dem auf die Kinder fokussierten Ausflug ins Prekariat zwar eine grundsätzlich willkommene und sicherlich notwendige Abwechslung im Themen- und Genre-Spektrum des Kieler „Tatort“ – aber der Film macht gleichsam deutlich, dass dieses sozial Enge offensichtlich nicht der Raum ist, in dem einer wie Borowski zur ganz großen Form aufläuft. Dieser Kommissar, der undenkbar ist ohne seinen Darsteller Axel Milberg, bleibt einer für das Weite im weitesten Sinne: für die Freiheit der Gedanken, für (kranke) Phantasien, für merkwürdige Interaktionen, für (nordische) Landschaft. Unrecht, Ignoranz oder Dummheit können Borowski ungeheuer wütend machen, aber Moral & Betroffenheit stehen anderen Kommissaren besser. (Text-Stand: 23.2.2015)