Die ersten, sprunghaft erzählten Minuten haben es in sich: Die Kamera folgt einer Person, die in großer Eile über den Bürgersteig hetzt und im Vorbeigehen eine Radfahrerin auf die Fahrbahn stößt – mit hörbar schrecklichen Folgen. Die werden nicht im Bild gezeigt, man sieht jedoch entsetzte Menschen, die der von einem Lkw überrollten, nicht sichtbaren Frau zu Hilfe eilen wollen. Die junge Täterin dagegen rennt davon. Die Kapuze des grünen Hoodies und die Haare verdecken ihr Gesicht. In der nächsten Einstellung sieht man Kommissar Klaus Borowski (Axel Milberg) vor der Tür eines Einfamilienhauses. Auf sein Klingeln wird nicht geöffnet. Und nach einem weiteren harten Schnitt wird Borowski auf dem Parkplatz eines Krankenhauses gefunden, bewusstlos und mit einer blutenden Kopfverletzung. Borowski und seine Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik) hatten sich, erfährt man durch einen späteren Dialog Sahins mit Kommissariatsleiter Schladitz (Thomas Kügel), nach Befragungen zu dem verhängnisvollen Stoß gegen die Radfahrerin in einer nahegelegenen Berufsschule getrennt.
Die Attacke auf offener Straße, durch die eine junge Mutter getötet wird, spielt anschließend praktisch keine Rolle mehr. Die Perspektive des Zufallsopfers und seiner Angehörigen bleibt ausgeblendet, der Vater und die Kinder sind nur kurz aus der Ferne zu sehen – das ist ein bisschen wenig, zumal der Schockmoment zu Beginn als bewusst gewählter „Einstieg“ in die „Wut“-Geschichte eine große Bedeutung hat. Von diesem Einwand abgesehen, nimmt die 39. „Tatort“-Episode mit Axel Milberg als Kommissar mit dem besonderen Gespür für Außenseiter eine spannende und unkonventionelle Wendung. Erst im Schlussbild zeigt Celina Lüppertz (Caroline Cousin), die wütende Teenagerin, ihr Gesicht. Die Figur ist nur durch ihre Stimme präsent, denn die Ermittlungen werden vor allem durch die Telefonate zwischen Borowski und Celina vorangetrieben. Die Berufsschülerin hatte die Handynummer des Kommissars auf ihren Arm gekritzelt. Zuerst meldet sich allerdings Finja („Helfen Sie mir, ich bin eingesperrt“), die von ihrer großen Schwester Celina offenbar entführt wurde – möglicherweise nach dem Mord an ihrer Großmutter, deren Leiche von Mila Sahin im Einfamilienhaus gefunden wird.
Die telefonische Zwiesprache des väterlichen Kommissars mit der misstrauischen Jugendlichen, die unvorhersehbar reagiert, schnell wütend wird, aber sich auch mitteilen will, ist ein reduziertes, aber psychologisch spannendes Mittel. Es passt zudem wunderbar zu diesem seltsamen Nordlicht Borowski, den Axel Milberg in 20 Jahren zu einer unverwechselbaren, versponnenen, einfühlsamen und auch ein bisschen durchtriebenen Figur geformt hat. „Borowski und die große Wut“ ist die erste Episode, die nach Milbergs Abschieds-Ankündigung ausgestrahlt wird. Bis 2025 wird es noch Kieler „Borowski-Tatorte“ geben, dennoch setzt schon ein wenig Phantom-Schmerz ein. Gleichzeitig war es für die weiblichen Figuren an Borowskis Seite nie ganz einfach, sich den nötigen (Spiel-)Raum zu verschaffen. Auch hier, obwohl Borowski ans Krankenhausbett gefesselt ist, hält der alte Kommissar die Zügel in der Hand – und funkt der jungen Kollegin, die eigentlich Chefin im Ring ist, gerne mal dazwischen. Dann gibt es wieder Momente großer Nähe zwischen beiden. Mila Sahin muss den eigenmächtig agierenden Borowski zurückpfeifen, ist dann aber wegen seines telefonischen Zugangs zu Celina auf ihn angewiesen.
Almila Bagriacik spielt die Kommissarin als stets kontrolliert und korrekt handelnde Polizistin, die sich energisch in ihrer Laufbahn hochgekämpft hat und auch sich selbst gegenüber streng und unnachgiebig wirkt. In dieser Episode plagen sie Schuldgefühle, weil sie nach den Ermittlungen an der Berufsschule lieber zum Boxtraining gefahren ist, statt an Borowskis Seite zu bleiben. Mila Sahin ist eine interessante Figur, die die Erfahrungen vieler Menschen aus Einwanderer-Familien spiegelt. Dass sich Bagriacik (laut NDR-Pressematerial) wünscht, dass man „mehr von Sahins Charakter“ sieht, auch „mehr von ihrer Lässigkeit“, erscheint aber nachvollziehbar.
Das Krankenhaus wird als eine Art Ermittlungszentrale neben dem Kommissariat zu einem besonderen Schauplatz, der auch auf kreative Weise in die Handlung integriert wird. Bedrohlich und leicht gruselig setzt Regisseurin Friederike Jehn Borowskis Ausflug in das Labyrinth des Technik-Kellers in Szene. Eine Prise Selbstironie enthält die Passage, in der der Blumen-Hasser ausgerechnet im Blumenladen Hilfe findet. Als „Running Gag“ wird außerdem die behandelnde Ärztin (Karla Nina Diedrich) stets durch Anrufe aus ihren Gesprächen gerissen. Am schönsten sind jedoch die Auftritte von Sophie von Kessel als Mit-Patientin Maren Puttkammer, eine wunderbare Nebenfigur, die der Filmerzählung, losgelöst von der Krimi-Handlung, einen leicht surrealen Touch verpasst. Wie ein Phantom taucht die Schwerkranke, die ihre verbleibende Lebenszeit zu genießen gedenkt, plötzlich auf, verwickelt den Kommissar in lebenskluge, humorvolle Dialoge, verdreht ihm auch ein bisschen den Kopf, spielt Piano in der Klinik-Kapelle und düst schließlich ins Nirwana.
Ohnehin spielt der Film nicht nur auf der vordergründigen Ebene der realen Krimi-Ermittlung. Denn Borowski hat durch das Hirntrauma die Erinnerung an die Ereignisse in dem Einfamilienhaus verloren. Die Lücken, die auch die Inszenierung zu Beginn gelassen hat, werden nur unvollständig durch traumartige Sequenzen geschlossen. Borowskis Geruchssinn kommt ins Spiel, was sich natürlich am Fernseher schwer vermitteln lässt. Dennoch wird deutlich, dass der Kommissar buchstäblich Witterung aufnimmt. Nach einer Begegnung mit dem nervösen Haustechniker (Roger Bonjour), der ihn verletzt auf dem Parkplatz gefunden hat, dreht Borowski, der sich gerade selbst entlassen will, wieder um und kehrt zurück ins Krankenzimmer. Sahin befragt derweil Celinas Mutter (Alexandra Finder) und deren neuen Lebensgefährten Dennis Schuster (Jean-Luc Bubert). Während Celinas familiärer Hintergrund nach und nach zum Vorschein kommt, hält der ungelöste Mordfall an der Großmutter und die Flucht der unberechenbaren Celina mit ihrer kleinen Schwester die Polizei – und das Publikum – in Atem. Borowski muss am Telefon Schlimmeres verhindern. Wieder ein Kieler „Tatort“, der in Erinnerung bleiben wird. (Text-Stand: 13.4.2023)