Knapp zwei Wochen vor seinem Tod hatte Jimi Hendrix seinen letzten großen Auftritt beim Love-and-Peace-Festival auf der Insel Fehmarn. Und so beginnt die „Tatort“-Folge „Borowski und der Schatten des Mondes“ mit „Purple Haze“ und Archivbildern vom „deutschen Woodstock“ Anfang September 1970. Mehr als 50 Jahre später wird unter der Wurzel einer umgestürzten Eiche das Skelett einer weiblichen Leiche gefunden. Da ein Computerprogramm das Gesicht des Opfers erstaunlich genau rekonstruieren kann, erkennt der Kommissar seine damalige Freundin Susanne sofort wieder. Der 14-jährige Klaus Borowski (August Milberg) wollte mit Susanne (Mina Rueffer) am 5. September 1970 nach Fehmarn trampen, aber Klaus verliert im Regen die Lust – zum Ärger seiner Freundin. Von einer Telefonzelle aus sieht er, wie doch noch ein Fahrzeug anhält, das er später bei der Polizei als beigefarbenen Campingbus beschreibt. Fünf Jahrzehnte später bleibt Borowski vor der Haustür von Susannes Vater, gespielt von dem mittlerweile verstorbenen Peter Maertens, lieber im Auto sitzen und überlässt es seiner jungen Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik), dem alten Mann die Nachricht zu überbringen, dass die Leiche seiner Tochter nach so langer Zeit gefunden wurde.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Axel Milberg spielt in einem der persönlichsten Fälle des langjährigen „Tatort“-Kommissars einen erschütterten, mit wiederkehrenden Schuldgefühlen ringenden Klaus Borowski. In einigen Szenen sieht man den erwachsenen Borowski auch in der eigenen Vergangenheit: an der Tankstelle, wo Susanne sich nach einem Streit von ihm abwandte. Er sei wütend gewesen, sagt er einmal. „Auf sie, auf mich. Weil ich nicht gekämpft habe.“ Als Teenager war er der wichtigste Zeuge in dem Mordfall, doch mit seiner Aussage führte er die Polizei unabsichtlich in die Irre. In Rückblicken rekonstruiert Regisseur Nicolai Rohde Borowskis Erinnerung – und nach und nach den wahren Ablauf. Milbergs Sohn August spielt die jugendliche Fernseh-Figur seines Vaters in den 1970er-Jahre-Szenen sehr beachtlich.
Gleichzeitig dürfte dem Publikum schnell klar sein, dass der Spaziergänger Michael Mertins (Stefan Kurt), der samt Dackel zufällig anwesend war, als die Revierförsterin Susannes Schädelknochen fand, auf irgendeine Weise in den Fall verwickelt ist. Das tut der Spannung aber keinen Abbruch, im Gegenteil: Mertins‘ scheinbar ganz normale Ehe mit seiner Frau Antje (Lena Stolze) in dem ordentlichen Einfamilienhaus trägt zur ungemütlichen Grundstimmung des Falls bei. Beide singen im Chor, und wenn sich Michael daheim ins Untergeschoss zurückzieht und Brahms‘ Deutsches Requiem („Denn wir haben hie keine bleibende Statt“) in voller Lautstärke auflegt, versinkt auch Antje ein Stockwerk darüber in der Musik. Überragend, wie Stefan Kurt und Lena Stolze diese Eheleute spielen und dabei die Last der Vergangenheit immer mitschwingen lassen.
Foto: NDR / Christine Schroeder
Der Film bietet nicht nur musikalisch, sondern auch visuell einen spannenden Wechsel verschiedener Ebenen. Zum einen durch den zeitlichen Sprung aus den 1970ern in die Gegenwart, zum anderen durch die verschiedenen Schauplätze, den düsteren Wald als Ort der Jagd und des Todes sowie im Gegensatz dazu die wohl geordnete Welt des Ehepaars Mertins in ihrem Einfamilienhaus. Die sorgfältig komponierten Bilder von Kameramann Philipp Kirsamer („Eine mörderische Entscheidung“, „Meine Tochter Anne Frank“) sorgen für eine eindringliche, von Anfang an etwas unheimliche Atmosphäre. Spannend bleibt es freilich auch, weil die Ermittlungen in diesem lange zurückliegenden Verbrechen einige überraschende Wendungen zu bieten haben. Und weil die eigenwillige Art des sensiblen Einzelgängers Borowski in diesem Fall für besondere Spannungen sorgt. Erst verschweigt der Kommissar seiner Kollegin Sahin, dass er damals der wichtigste Zeuge war. Dann ignoriert er Sahins Aufforderung, seine persönliche Verwicklung in den „cold case“ seinem Chef Roland Schladitz (Thomas Kügel) zu offenbaren. Sahin gerät in ein Dilemma: Will sie sich korrekt und professionell verhalten, muss sie Borowski anschwärzen. Auch wenn das Duo Borowski/Sahin immer noch etwas zu fremdeln scheint, gelingt hier ein zwar konfliktreiches, aber auch berührendes Zusammenspiel zweier Figuren aus unterschiedlichen Generationen.