Der Jubiläumsfall bleibt von Anfang bis Ende auf Borowski konzentriert, schafft es dabei aber auch, mit mehreren Motiven und Verdachtsmomenten zu jonglieren. Gelassen gelungen.
Auf einem Parkplatz bei Kiel liegt der Leichnam eines Säuglings. Ein grauenhafter Fund, zu dem der Kieler Kommissar Borowski (Axel Milberg) außerplanmäßig aus dem Urlaub hinzugezogen wird. Kann er verknusen. Seine uneitle Kollegin Mila Sahin (Almila Bagriacik) auch. Die Spur führt nach Wacken. Das Ermittler-Duo erkennt das Baby und dessen Mutter (Irina Potapenko) auf dem Film einer Überwachungskamera. Die scannt das Gelände vor dem Festivalbüro von Lenny Jensen (Nicolas Dinkel). Wollte die junge Frau zu ihm? Und wo ist sie jetzt? Die örtliche Polizei könnte helfen, das Schweigen im Dorf zu brechen. Dummerweise hat Polizistin Waltraute (Regine Hentschel) selbst guten Grund, zu schweigen. Sie ist Lennys Mutter und misstraut dem kontaktscheuen Sohn. Denkbar schwierige Ausgangslage für das Ermittlerteam. Borowski aber scheint das nicht zu stören. So kann er guten Gewissens als Alien im Cordanzug durch Wacken streifen, in Halbsätzen Nähe suchen und in kargen Antworten nach Hinweisen fahnden. Er hat Zeit und ein Team, in dem alle ihren Part übernehmen. Borowskis Part ist es, mit der schwangeren Hofladenbesitzerin Sarah Stindt (Anja Schneider) „Der Mond ist aufgegangen“ zu singen. Über den Gemüsekisten schwebt ein Traum von heiler Familie. Darunter, das weiß Borowski nur zu gut, ist des einen Glück des anderen Unglück, ist jeder Umweg am Ende zielführend. Man schaut diesem Mensch beim Herumstreifen gerne zu. Der Tonfall stimmt, es langweilt keine Minute.
Foto: NDR / Thorsten Jander
Seit 2003 hat sich die Figur des Kieler Kommissars in 38 Fällen gewandelt. Der große Bogen führt vom Choleriker zum altersmilden Beobachter, der das Staunen stellvertretend für sein Publikum nie verlor. Längst bellt dieser Borowski nicht mehr nur „Ich höre“ ins Telefon, sondern wählt, wo es hilft, auch mal den Singsang. Axel Milberg kleidet diesen gewandelten Charakter in einen braunen Cordanzug und gedeckte Hemdfarben, in weiche Bewegungen und in ein lakonisches Lächeln zum fragenden Blick. Im aktuellen Fall hält Drehbuchautorin Agnes Pluch („Am Anschlag – Die Macht der Kränkung“, 2021) Fakten (Mila Sahin) und Verspieltes (Axel Milberg) in einer ausgewogenen Balance. In den Nebenrollen überzeugen Anja Schneider und Andreas Döhler. Als hart arbeitendes Ehepaar Stindt ergänzen beide ihre bisherigen Auftritte als verzweifelte Glückssucher um neue Facetten. Als kleines Schmankerl für Festivalgänger hat wie schon in der Serie „Legend of Wacken“ Mitgründer und Mitveranstalter Thomas Jensen seinen kleinen Auftritt. Einzig die auf den Dorfstraßen versammelten Metal-Statisten laufen etwas zu offensichtlich gut gelaunt, grölend und rempelnd durchs Bild. Ausbaufähig sind auch die kurzen Meetings im improvisierten Vor-Ort-Kommissariat. In all der Kürze riecht das eher nach einem Blitzbesuch in der politisch korrekten „SOKO Diversity“. Für differenzierte Rollenprofile reichte es diesmal für Mitarbeiter Ole (Joel Williams) nicht aus. Das kann man gern nachholen.
Foto: NDR / Thorsten Jander
Soundtrack:
Slipknot („Duality“), The Bates („Hello“), Judast Priest („Children oft the Sun“), Motörhead („God was never on your Side“)
Stimmig setzt der aktuelle Kieler Fall das Spiel mit Gegensätzen in allen Gewerken um. Wo sich Metal-Fans, norddeutsche Bauern und zwei Menschen aus einer wirklich anderen Welt treffen, stößt im Soundtrack Judas Priest auf Matthias Claudius und im Bild das Dunkle auf das Überbelichtete. Die Ermittlungen führen in die schwarz umrahmte Welt von Metal-Podcaster Lenny, in den Kellerraum von Gastwirt Stindt und dann wieder hinaus ins Freie, Helle. Draußen fängt Kameramann Aljoscha Hennig goldene Ähren und flimmerndes Grün ein. Während einer Autofahrt, auf der Kurt Stindt und Klaus Borowski einander vorsichtig umkreisen, tanzen Sonnenflecken um sie herum. Wo nach dem Festival Matsch sein wird, sind die Wege noch staubtrocken. Alles in allem: Das Land ist in jeder Außenszene spürbar. Der Schauplatz Wacken erscheint für den Fall selbst nicht zwingend, verleiht dem Landporträt aber eine zusätzliche Farbigkeit. Immerhin: Alle haben sich entschieden, auf Möwen und Meer mal zu verzichten. Und siehe da, auch so wird ein richtig guter norddeutscher Krimi draus. Mit ihrem zweiten „Tatort“ nach dem Dortmunder Fall „Masken“ (2021) gelang Regisseurin Ayse Polat eine feinfühlige Studie und das Porträt eines Kommissars, dessen Kantigkeit abgewetzt, dem aber nichts zur schnöden Routine geworden ist. Der Jubiläums-„Tatort“ ist zugleich Milbergs vorletzter Auftritt als Borowski. Ende Januar beginnen die Dreharbeiten zu seinem Abschlussfall, danach wird es mit Almila Bagriacik und einem neuen Team weitergehen.