Heute würde Regisseur Wolfgang Becker den Film womöglich anders beginnen; wegen der nicht verhandelbaren Sendeplatzlänge von knapp 90 Minuten müsste er ohnehin kräftig kürzen. „Blutwurstwalzer“ dauert 117 Minuten, weil sich Buch und Regie immer wieder Zeit lassen. Gleich zu Beginn schaut die Kamera (Martin Kukula) in aller Ruhe zu, wie Franz Markowitz (Günter Lamprecht) auf den Krankenhausbalkon eine Zigarette raucht. Später beobachtet sie fasziniert, wie in einer Waschanlage Wassertropfen die Scheibe hinunterrollen. Einstellungen wie diese haben zwar einen gewissen kontemplativen Effekt, sind in einem Krimi aber vor allem dann dramaturgisch sinnvoll, wenn sie als retardierendes Moment eingesetzt werden; hier jedoch halten sie bloß den Fluss der Handlung auf.
Hauptfigur neben dem Kommissar, dem die Galle entfernt wurde, ist ein junger Mann (Jürgen Vogel), der an die falschen Freunde geraten ist: Alex arbeitet in einer Kneipe und muss sich ständig von seinem despotischen Chef Bannasch (Heinz Hoenig) anschreien lassen. Seine Freizeit verbringt er mit dem Choleriker Randy (Ralf Richter), der für Bannasch heiße Ware transportiert. Der Titel ist eine Anspielung auf die Fremdenlegion, weil sich Randy gern mit einer erfundenen Vergangenheit als Legionär brüstet: „Blutwurstwalzer“ ist das bekannteste Marschlied der Legion. Bannaschs Kneipe heißt Le Boudin (Blutwurst); so nennen Legionäre ihre zu einer Wurst zusammengerollte und auf den Tornister geschnallte blaue Wolldecke.
Randy ist ein Waffennarr und krankhaft eifersüchtig. Als er rausfindet, dass seine Freundin Lizzi (Iris Disse) nebenbei auch mit Alex’ Freund Hansi (Harald Kempe) ins Bett geht, rastet er aus. Das ist der eigentliche Auftakt des Films, zumal es ewig dauert, bis Randy sein Werk endlich vollbracht hat: Der zähe Hansi springt dem Tod gleich viermal von der Schippe und landet schließlich im gleichen Krankenhauszimmer wie Markowitz, der ohnehin nicht schlafen kann, weil sein Bettnachbar die ganze Nacht röchelt. Autor Horst Sczerba hat schon die Abfolge der diversen Mordversuche als Verkettung skurriler Ereignisse konstruiert, nun setzt er noch eins drauf: Hansi klaut die Brieftasche des Kommissars und sucht ein öffentliches Telefon. Beim ersten fallen die Münzen durch, das zweite ist defekt, das dritte funktioniert nur mit Telefonkarte – und dann erledigt sich das Problem, weil Randy seinen Amoklauf endlich zu Ende bringt. Natürlich ist das alles auch recht makaber, aber das gibt dem Film eine ganz spezielle Note; später greifen Sczerba und Becker dies noch mal auf, als Alex versucht, Randys Leiche los zu werden und sich rausstellt, dass der Typ noch gar nicht tot ist.
Zwischen diesen beiden Szenen ist „Blutwurstwalzer“ in erster Linie eine Milieustudie, die Ralf Richter und Jürgen Vogel eine Menge Spielmaterial bietet. Richter, wie so viele andere zehn Jahre zuvor durch „Das Boot“ bekannt geworden, war 1991 längst etabliert und auf den Typus des Ruhrpottproleten festgelegt, den er hier auch verkörpert; Randy ist ein unsympathisches Großmaul. Vogel, der erst im Jahr drauf mit „Kleine Haie“ schlagartig bekannt wurde, legt Alex, eine seine ersten Hauptrollen, ungleich differenzierter an. Der Junge ist Boxer, ohne großes Talent zwar, aber mit viel Mut, und auf die schiefe Bahn geraten. Markowitz, der früher auch geboxt hat, mag ihn, was ihn nicht davor bewahrt, dass Alex ihm im Finale ein Messer an die Kehle setzt.
Mitunter wirkt die Geschichte aufgrund der episodischen Erzählweise etwas unstrukturiert, aber die vielen kleinen und großen Momente, mit denen Sczerba seine Figuren charakterisiert, machen das wieder wett. Einige Szenen sind so eindrücklich inszeniert, dass sie sich nachhaltig einprägen. Randys Mordversuchserie an Hansi zum Beispiel unterlegt Becker mit Richard Wagners „Walkürenritt“, was einerseits die pure Ironie ist, andererseits auch ein Verweis auf „Apocalypse Now“; in den Wohnungen der beiden Männer hängt das Filmplakat. Beiläufig boshaft ist auch eine Kamerafahrt bei Hansis Beerdigung: Die meisten Trauergäste sind vierschrötige junge Boxer, die offensichtlich alle wie ihr Idol René Weller aussehen wollen. Einmal wird Alex von dem stets auf Wettbewerb gepolten Randy genötigt, einen toten Zierfisch runterzuschlucken; Randy, der sich für ziemlich clever hält, tut nur so, als ob. Erst viel später zeigt sich, dass er Alex unterschätzt hat, weshalb er schließlich die direkte Konfrontation verliert. Sehr schön ist auch das Spiel mit den Erwartungen, das Becker und Sczerba immer wieder treiben: Als Alex die Pistole, mit der er auf Randy geschossen hat, in die Spree geworfen hat, stoppt hinter dem Lieferwagen mit der der vermeintlichen Leiche ein Polizeiauto; aber die Beamten kommen ihm nicht etwa auf die Schliche, sondern knacken die ins Schloss gefallene Fahrertür in bester Autodiebmanier, damit er weiterfahren kann.
„Blutwurstwalzer“ war die zweite Regiearbeit von Wolfgang Becker, der mit seinen folgenden Filmen „Kinderspiele“ (1992), „Das Leben ist eine Baustelle“ (1997) und „Good Bye, Lenin!“ (2003) eine Auszeichnung nach der anderen erhielt. Der „Tatort“ ist bis heute Beckers einziger Krimi. Seine Regieassistentin war Cornelia Walther, die wenige Jahre später ihr Regiedebüt mit „Das erste Mal“ 1996 und heute als Connie Walther („12 heißt ich liebe dich“) zu den wichtigsten und meist ausgezeichneten Regisseurinnen gehört. Günter Lamprecht wiederum war dank „Berlin Alexanderplatz“ (1980) künstlerisch längst etabliert, aber populär wurde er erst als „Tatort“-Kommissar; der Sender Freies Berlin strahlte die ersten drei Markowitz-Fälle im Jahr 1991 innerhalb von vier Monaten aus. (Text-Stand: 25.7.2017)