Tatort – Ätzend

Meret Becker, Mark Waschke, Wagner, Mohnheim, Zahavi. Der Realität verpflichtet

Foto: RBB / Volker Roloff
Foto Rainer Tittelbach

„Ätzend“, die zweite Begegnung mit dem Berliner „Tatort“-Duo Becker/Waschke, ist weniger spektakulär als „Das Muli“, spinnt dafür die Geschichte um den mysteriösen Bullen Robert Karow geschickt weiter. Wieder steht Berlin im Fokus. Man bekommt viel mit vom Atem der Stadt und auch thematisch bewegen sich die Geschichten am Puls der Zeit. Dramaturgisch wagt man sich so weit wie bisher kein anderer Reihenkrimi ans horizontale Erzählen. Aber auch Zuschauer, die den Auftaktkrimi nicht kennen, dürften sich zurechtfinden in diesem sehr sehenswerten Krimi, der seine zwei Fälle geschickt mit privaten Dramen unterfüttert.

Machen Karow & Rubin ein Riesenfass auf?
Berliner Polizeialltag. Karow ist weiterhin dem Tod seines Partners auf der Spur und kann sich über dessen frisierten Obduktionsbericht nur wundern. Nina Rubin weiß noch immer nicht, was sie von ihrem Kollegen halten soll: seine Alleingänge, seine Arroganz, das Bloßstellen des Teams – sie gibt ihm deutlich zu verstehen, dass ihr das alles nicht passt. Sie einigen sich darauf, professionell ihre Arbeit zu machen: Und die dreht sich um zwei Leichen, die in der Großbaustelle am Treptower Park entdeckt wurden. Die eine hat der Täter vor Jahren in Schwefelsäure eingelegt; der andere Tote ist Opfer einer Hinrichtung und erst vor einigen Monaten vergraben worden. Bei der Obduktion der älteren Leiche wird ein Herzschrittmacher gefunden. Sein Besitzer ist noch ziemlich lebendig. Eine Familie gerät daraufhin ins Visier der Ermittler: die Merizadis, die aus dem Iran stammen und sich illegal in Deutschland aufhalten. Die hochschwangere Mutter Layla und ihr Baby können in letzter Minute gerettet werden. Der Sohn Arash, ein Teenager, ist flüchtig, und Vater Saed sitzt in U-Haft, steht unter Mordverdacht. Hat er für das Leben in Deutschland seinen Bruder getötet?

Tatort – ÄtzendFoto: RBB / Volker Roloff
„Ätzend“ ist nicht nur der erste Leichenfund. „Ätzend“ findet Nina Rubin (Meret Becker) auch die Alleingänge von Karow (Mark Waschke). Sie mag es offen und direkt.

Zwei Ermittler ohne heroische Genre-Attitüde
„Ätzend“, die zweite Begegnung mit dem neuen Berliner „Tatort“-Team, ist weniger spektakulär als „Das Muli“, spinnt dafür die Geschichte um Robert Karow geschickt weiter. Wie in der Auftaktepisode angedeutet wurde, geht dieser offenbar selbst über Leichen, um herauszubekommen, wer seinen Partner auf dem Gewissen hat. Das hat vor allem Selbsterhaltungsgründe: Denn das LKA versucht immer noch, Karow den Mord an seinem Kollegen anzuhängen. Behauptet er jedenfalls. Seine Kollegin mag ihn zwar nicht, maßregelt sein riskantes Vorgehen, was ihm einen Termin bei der Polizeipsychologin einbringt, aber dass er tiefer in die Sache verstrickt sein könnte, glaubt sie nicht oder möchte es jedenfalls nicht glauben. Und so sieht es im Schlussdrittel zunächst danach aus, als ob der Weg frei wäre für ein gemeinsames „Aufräumen“ und das krimireihentypische Sichfinden zweier Ermittler: die Bodenständige, die eine offene, direkte Kommunikation bevorzugt, und der mysteriöse Eigenbrötler gemeinsam gegen den korrupten Apparat! So einfach machen es die Autoren Stephan Wagner und Mark Monheim dem Zuschauer dann aber doch nicht. Rubin & Karow sind keine Kommissare mit heroischer Genre-Attitüde, sondern es sind gebrochene Charaktere, die sich ihr Leben wie andere Menschen auch erkämpfen müssen und die durchaus fehlbar sind. Rubin möchte ihr privates Glück, Karow seine berufliche Reputation zurück. Das Happy End der beiden lässt noch auf sich warten. Der Berlin-„Tatort“ setzt noch stärker als Schweigers Tschiller oder die Vier aus Dortmund aufs horizontale Erzählen.

Tatort – ÄtzendFoto: RBB / Volker Roloff
Der Berliner Atem wird spürbar. Der Sohn der Merizadis, Arash (Tan Julius Ipekkaya), ist flüchtig. Seine Freundin Ira (Stephanie Amarell) muss ihm helfen.

Der Atem der Stadt – Themen am Puls der Zeit
Auch in „Ätzend“ steht wieder Berlin im Fokus. Man bekommt viel mit vom Atem der Stadt. Regisseur Dror Zahavi genügen dafür mitunter nur wenige Einstellungen. Abgefahrene Häuserfronten, Totalen vom Kreuzberger Kiez, Berlin bei Nacht, die Großbaustelle am Treptower Park, bei dem die traditionsreichen Laubenkolonien platt gemacht wurden. Und hier, auf der Straße, liegen die Geschichten, vermeintlich kleine wie das Schicksal der illegalen iranischen Familie und größere wie die umfassenden städtebaulichen Maßnahmen, durch die Berlin ein neues Gesicht bekommen wird. Und man riecht auch schon die Korruption, die dieser „Geldfluss“ mit sich bringen dürfte. Stoff für realistische, politische Fälle gibt es also genug in der Hauptstadt. Auch der Fall Karow scheint auf einen „Fehler“ im System hinauszulaufen. Es gibt ein wichtiges Beweismittel, ein Video, das allerdings noch nicht gefunden ist. Und so kommt es zu einem für eine Krimi-Reihe ungewöhnlichen Finale, das ähnlich wie das unaufgeklärte Messer-Attentat auf Kommissar Franz Leitmayr im BR-„Tatort – Am Ende des Flurs“ für Irritationen und öffentliche Diskussion sorgen dürfte.

Kommissare & Milieu spiegeln sich wechselseitig
Die Krimi-Inflation hierzulande hat in letzter Zeit dazu geführt, dass Produzenten, Sender und vor allem Drehbuchautoren sich nicht nur Gedanken machen über außergewöhnliche Geschichten, sondern auch über dramaturgische Varianten. Mit einem simplen Whodunit, der ja flächendeckend Serien und Vorabendkrimis dominiert, gibt man sich zu recht nur noch selten zufrieden. Auch „Ätzend“ will mehr und anders erzählen. Durch die Hinhaltetaktik des iranischen Familienvaters öffnen sich Räume für andere Geschichten: den Fall Karow, Rubins ungeklärte Familiensituation, und besonders das Drama der Merizadis – zwischen Flucht und Kaiserschnitt – gerät in den Fokus. Die Erzählstränge werden spannend verknüpft, verleihen  dem Film ein relativ hohes Tempo, obwohl so gut wie keine Action darin vorkommt, und geben dem Ganzen Komplexität und Dichte. Zusammen mit der präzisen Inszenierung, der klaren Bildgestaltung, der abwechslungsreichen Farbdramaturgie und der visuellen Präsenz Berlins, entsteht daraus ein nachhaltiger Eindruck von physischer Realität: vom Leben in der Hauptstadt, vom Alltag zweier Polizisten. Wie im Dortmunder „Tatort“ oder dem Rostocker „Polizeiruf 110“ (be)spiegeln sich Kommissare und Milieu wechselseitig. Narrativ überhöht bleiben die Szenarien dieser Reihen erfreulicherweise dennoch. Dass ausgerechnet diese drei Reihen auch mehr oder weniger zum horizontalen Erzählen tendieren, kann kein Zufall sein.

Sie sehen gerade einen Platzhalterinhalt von YouTube. Um auf den eigentlichen Inhalt zuzugreifen, klicken Sie auf die Schaltfläche unten. Bitte beachten Sie, dass dabei Daten an Drittanbieter weitergegeben werden.

Mehr Informationen

tittelbach.tv ist mir was wert

Mit Ihrem Beitrag sorgen Sie dafür, dass tittelbach.tv kostenfrei bleibt!

Kaufen bei

und tittelbach.tv unterstützen!

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Reihe

rbb

Mit Meret Becker, Mark Waschke, Husam Chadat, Tan Julius Ipekkaya, Elmira Rafizadeh, Stephanie Amarell, Carolyn Genzkow, Aleksandar Tesla, Tilo Prückner, Maryam Zaree

Kamera: Gero Steffen

Szenenbild: Gabriele Wolff

Schnitt: Fritz Busse

Musik: Jörg Lemberg

Produktionsfirma: Wiedemann & Berg

Drehbuch: Stephan Wagner, Mark Monheim

Regie: Dror Zahavi

Quote: 9,71 Mio. Zuschauer (26,6% MA)

EA: 15.11.2015 20:15 Uhr | ARD

Spenden über:

IBAN: DE59 3804 0007 0129 9403 00
BIC: COBADEFFXXX

Kontoinhaber: Rainer Tittelbach