Opfer und Täter, Mitläufer und Wegseher
1945 – die letzten Tage des Krieges. In Tannbach, einem Dorf an der thüringisch-bayerischen Grenze, sehnen die einen die amerikanischen „Befreier“ herbei, andere hingegen träumen noch immer vom Endsieg – und sie statuieren noch rasch ein Exempel: die Gräfin von Striesow (Natalia Wörner) wird exekutiert, weil sie ihren desertierten Mann Georg (Heiner Lauterbach) versteckt. Danach ergeben sich die Bewohner in ihr Schicksal. Führerbilder landen im Feuer, Biographien werden geschönt, das eine oder andere Braunhemd schießt sich den Kopf weg. Eine Mutter (Nadja Uhl) kämpft um ihre Söhne, die mit ihr aus dem ausgebombten Berlin aufs Land geflüchtet sind. Eine andere Mutter (Martina Gedeck) verrät ihren Sohn, weil sie ihm seinen „Widerstand bis zum letzten Blutstropfen“, der der Gräfin das Leben kostete, nicht verzeihen kann. Die Halbwaise Anna von Striesow (Henriette Confurius), die nach der Verhaftung des Vaters die Stellung auf dem Gutshof hält, findet in dem Flüchtlingssohn Friedrich (Jonas Nay), dessen Vater Kommunist war und im KZ umkam, in ihrem Verlust einen Vertrauten. Die beiden verlieben sich. Derweil ist auf einem anderen Hof Hochzeit angesagt: die von einem französischen Zwangsarbeiter geschwängerte Theresa Prantl (Maria Dragus) hat sich für ihr Kuckuckskind den körperbehinderten Heinrich Schober (Florian Brückner) ausgeguckt. Dass Franz Schober (Alexander Held) mitspielt, der selbstherrliche, bauernschlaue Ober-Nazi, der sich bei den Amerikanern einwanzt, ist allein dem Umstand zu verdanken, dass „Heini“ etwas gegen seinen Vater in der Hand hat: sein NSDAP-Parteibuch.
Foto: ZDF / Martincek / Zentel
Ein Mythos und seine politischen Folgen
Deutschland in der „Stunde Null“, die es ja nie gegeben hat. Der Westen wollte vergessen, ließ sich vom amerikanischen Konsum verführen. Im Osten gaben die Russen den Ton an, Idealisten hofften auf ein neues Deutschland, doch die „Apparatschiks“ in den eigenen Reihen hatten bald das Sagen. „Man schüttet kein dreckiges Wasser aus, wenn es kein reines gibt.“ Konrad Adenauer kennzeichnete 1952 mit diesen Worten nicht nur den Geist der frühen Bundesrepublik, in der die „Entnazifizierung“ wie schon unter der amerikanischen Besatzungsmacht bekanntermaßen eine Farce war, er trifft auch die Situation im Osten. Opportunisten gab es überall und die deutschen Sekundärtugenden wie Treue, Gehorsam und Disziplin waren vor und nach 1945 Steigbügelhalter für die Allmacht der Ideologien. Und so treiben „faschistische Kommunisten“ mit ähnlichen Methoden den Sozialismus voran wie die Nazis einst die Theorie des Herrenmenschen und ihren Rassenwahn. Enteignung, Deportation und Lager für gesellschaftlich unliebsame Subjekte – die Geschichte wiederholt sich. Und dann dieser unheilvolle Stacheldrahtzaun, 1378 km lang, mitten durch Deutschland.
Pointierte, programmatische Sätze:
Konrad Werner (Landrat): „Eine neue Ordnung, eine neue Gesellschaft, kann man nicht gründen, ohne jemandem wehzutun.“ / „Opportunisten sind folgsame Knechte der Macht.“ / „Wo sollen sie denn herkommen, die gewachsenen Sozialisten und Demokraten?!“
Lothar (Liesbeth Erlers Ziehsohn): „Man verhindert Dinge, vor denen man Angst hat, nicht dadurch, dass man sie verbietet.“ / „Du kannst die Menschen nicht verändern, Friedrich. Und wenn du willst, dass ich hier mit euch lebe, dann musst du mich akzeptieren, wie ich bin.“
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Die neue Zeit frisst ihre Kinder
Von all dem erzählt „Tannbach – Schicksal eines Dorfes“. Nachdem der Ort im zweiten Teil plötzlich den sowjetischen Besatzern zugesprochen wird, kommt es im dritten Teil zur endgültigen „Entzweiung“: Die DDR, die mit der „Aktion Ungeziefer“ endgültig das Erbe der Nazis antritt, macht die Grenzen dicht – und für die Hauptfiguren kommt die Stunde der Entscheidung: Wählen sie die neue, sozialistisch angehauchte Diktatur oder folgen sie dem Diktat des schönen Scheins, den der Marshall-Plan ermöglichte? So wie sich die politischen Lager kontinuierlich seit Kriegsende voneinander entfernt haben, so gibt es auch zwischen den Charakteren immer weniger Übereinstimmungen. Die Grenze geht mitten durch Tannbach, das dem realen Ort Mödlareuth nachempfunden wurde, und sie geht durch die Familien. Nur in einem Punkt können sich alle Protagonisten die Hände reichen: Jeder hat sich auf irgendeine Weise schuldig gemacht oder fühlt sich zumindest schuldig. Die politischen Umstände veranlassen alle, selbst die moralisch Integren, im Laufe der erzählten sieben Jahre oder in der nationalsozialistischen Vorgeschichte zu Dingen, die anderen Menschen weh tun oder gar ins Verderben stoßen. Hätte Anna ihren desertierten Vater nicht auf den Hof gebracht, würde ihre Mutter noch leben. Friedrich entscheidet sich für den Status als Neubauer, was die enteignete Anna ihm eine Zeitlang als Verrat anlastet. Und Liesbeth Erler, die Nadja Uhl als Zerrissene und doch engelsgleiche Muttergestalt verkörpert, kann nicht anders („Ich kann hier nicht mehr atmen“) und lässt ihre „Kinder“, sogar ein Baby, das ihr anvertraut wurde, im Stich. Eine weitere starke Frau ist die von Martina Gedeck bei allem Misstrauen gegenüber politischen Systemen wunderbar selbstgewiss und unangepasst gespielte Wirtin: Sie verrät ihren SS-Sohn an die Amerikaner. Im Tun und Machen versucht sie zu vergessen. Diese beiden Frauen, die mit dem Kompass der Erfahrung und Klugheit ihren Lebensweg gehen, sind die Figuren, die dem Zeithorizont 2015 am nächsten kommen. „Dein Glauben, deine Träume, deine ganze Begeisterung – das kenne ich, Friedrich. Wie bei all diesen großen Ideen, am Ende bist du der Verlierer“, warnt Liesbeth, der Deutschland bald zu eng wird, ihren Sohn. Sie ahnt, was kommen wird. Die Revolution frisst ihre Kinder, und die Jugend verliert ihre Unschuld.
Foto: ZDF / Martincek / Zentel
Geschichte aus der Zeit heraus verstehen
Ansonsten versuchen die Autoren Josephin und Robert von Thayenthal, die Drehbuch-Bearbeiter und Regisseur Alexander Dierbach („Uns trennt das Leben“), die Charaktere historisch (korrekt) denken zu lassen. „Ich musste versuchen, aus der damaligen Zeit heraus auf die Geschehnisse zu blicken, aus der vergangenen Gegenwart zu erzählen“, betont Dierbach. Seine wesentliche Aufgabe sah er darin, „zu verhindern, mit unserem heutigen Mehrwissen auf die damalige Zeit zu früh Wertungen auszusprechen.“ Verständnis für die frühe idealistische Pro-DDR-Haltung erzielt der Dreiteiler schon allein durch die Besetzung. Der charismatischen Henriette Confurius als Anna von Striesow, die früh erwachsen sein muss und später Friedrich Erlers Frau wird, nimmt man biographisch wie filmisch den Glauben an das „neue Deutschland“ ab. Auch Jonas Nay, in seinen bisherigen großen Rollen stets ein vom Leben Geprüfter, überzeugt als vaterloser junger Mann, der von außen geleitet wird und sich einen Ersatzvater sucht. Die zweite dramaturgische Herausforderung des ZDF-Events zu 70 Jahre Kriegsende ist die Gefahr, die Geschichte zu didaktisch anzulegen, sie mit deutschen Schicksalen und dem Geschichtsfundus der Nachkriegszeit zu überfrachten; umgekehrt besteht aber auch die Gefahr, zu ästhetisch „verspielt“ auf jene Jahre zu schauen und sich zu sehr auf die anschließend gesendete Dokumentation zu verlassen und darauf, dass die Zuschauer dran bleiben werden. Alle Beteiligten manövrieren das Projekt „Tannbach“ letztendlich geschickt aus den diversen Gefahrenzonen. Dem Film gelingt im Wechsel von historisch essenziellen Szenen, von paradigmatischen und programmatischen Sätzen sowie Bildern, die allzu bedeutungsträchtige Situationen stimmungsvoll konterkarieren, ein nachhaltiges und gleichsam unterhaltsames TV-Stück fiktionalisierte Zeitgeschichte.
Foto: ZDF / Martincek / Zentel
Klein-Berlin: Unsere Ossis, unsere Wessis
Und doch besitzt „Tannbach“ dramaturgisch wie inszenatorisch nicht die ganz große Klasse des preisgekrönten Dreiteilers „Unsere Mütter, unsere Väter“. Das hat auch Stoff- und Genre-Gründe. Die Kriegswirren sind – so hart das klingen mag – filmisch das „dankbarere“ Sujet als die Irrungen der Nachkriegszeit. Vor allem aber ist es die Inszenierung von Raum und Zeit, die die Dramen aus dem thüringisch-bayerischen „Klein-Berlin“ dramaturgisch zu einer größeren Herausforderung machen als die (Heimat-)Fronterfahrungen der fünf Freunde aus dem Zweiten-Weltkrieg-Epos. „Tannbach“ ist ein klassisches historisches Familiendrama aus der deutschen Provinz – gut recherchiert, geschichtlich aufschlussreich und somit als „Anschauungsmaterial“ für die heutige Jugend gesellschaftlich relevant. Filmästhetisch ist es ein ehrenwertes Projekt – mit seinen (Stellvertreter-)Charakteren, die ein Peter Steinbach („Heimat“) oder ein Oliver Storz („Gegen Ende der Nacht“) vor 30 Jahren kaum anders erzählt hätten. Trotz der Zeitsprünge bleibt der in vielfacher Hinsicht Raum-fixierte „Tannbach“-Mehrteiler in seiner filmischen Anmutung – im Gegensatz zu „Unsere Mütter, unsere Vater“, der auf Bewegung und Montage als ästhetische Prinzipien baut – eher statisch. Etwas simpel und gestrig wirkt auch – vor allem, was die Kleindarsteller angeht – die physiognomische Rhetorik, mit der der Film mitunter arbeitet: je mausgrauer und verschlagener, umso mehr Nazi; je derber und grobschlächtiger, umso mehr Rotarmist.
Den Irrsinn der Teilung mikroskopisch heruntergebrochen
Deutlich überwiegt dennoch der positive Eindruck, den das Erzählprinzip von „Tannbach“ mit sich bringt: Je kleiner, je mikroskopischer die Narration, je stärker die Konzentration auf den Raum, auf das Klein-Berlin im Wandel der ersten Nachkriegsjahre, umso klarer können die Widersprüche, der Irrsinn der Teilung und die Tragik der Tannbacher Trennungsgeschichten, in denen sich der deutsch-deutsche Makrokosmos spiegelt, hervortreten. So „weich“ und anrührend das Spiel des hervorragenden Ensembles, aus dem noch „Sauhund“ Alexander Held und Ludwig Treptes tragischer „Grenzgänger“ zu nennen sind, so spröde und wenig elegant sind bisweilen Erzählfluss und Zeitlogik geraten. Dramatisch und emotional aber trägt der Film über die kompletten 270 Minuten. Kein Wunder – bei dieser Historie, diesen tragischen Geschichten, diesen großartigen Schauspielern, diesen existenziellen Entscheidungen (Bleiben oder Gehen) & den vielen Situationen (die Russen kommen), von denen der eine oder andere schon mal gehört hat: aus den Erzählungen der (Groß-)Eltern. (Text-Stand: 21.12.2014)