Jahrelang haben die Dewenters den Schein einer ganz normalen Familie gewahrt. Dabei hat Vater Christian seit Jahren eine Affäre – und auch die Mutter, die den Laden zusammenhält und dabei sogar noch Zeit gefunden hat, ein Buch zu schreiben, hat sich privat längst anderweitig orientiert. Bei einem Festakt ihr zu Ehren bleiben die Plätze der Kinder leer, wenig später ist sie tot. Die Familie scheint danach völlig auseinanderzubrechen. Der Sohn Lars, Schauspieler, Mitte 20, hat das Elternhaus nach dem Abitur fluchtartig verlassen; er hasst seinen Vater, macht ihn allein verantwortlich für den armseligen Zustand der Familie. Elaine, ein Teenager mit feinen Antennen, weiß als einzige, dass ihre Mutter einen Liebhaber hatte; weil sie aus der Nesthäkchenrolle nicht raus kommt, zieht sie sich zurück und gibt die coole Rotzgöre. Vater Christian, Typus freundlicher, schwacher Mann, der es gut meint und doch fast immer das Falsche tut, macht sich in seiner seelischen Not erst einmal auf zu seiner Geliebten, anstatt die Nähe zu seinen Kindern zu suchen und gemeinsam mit ihnen zu trauern.
Foto: WDR, BR / Toccata Film
Was macht man aus einem solchen Scherbenhaufen? Was geht noch bei den Dewenters? „Tage die bleiben“ erzählt von den Ängsten, der Wut und den festgefahrenen Bildern einer völlig aus den Fugen geratenen Familie in den Tagen zwischen Tod und Beerdigung. Dass der Debütfilm von Pia Strietmann eine so kurze Zeitspanne wählt (das erinnert an „Der letzte schöne Tag“) – daraus ergibt sich eine der großen Stärken dieses Films: die psychologische Genauigkeit im Detail, die genaue Beobachtung von Wechselwirkungen und Widersprüchen, die weitsichtige Vernetzung der individuellen Verletzungen und psychischen Dispositionen der Charaktere, der Verzicht – auch dramaturgisch – auf simple Schuldzuweisungen. „Tage die bleiben“ erzählt von den Möglichkeiten der Trauer: da ist die Wut des Vaters, die erst gebannt ist, als er den Liebhaber seiner Frau, dem er eigentlich an die Gurgel gehen wollte, jämmerlich weinen sieht; da ist die Abkapselungsstrategie der einsamen, verloren wirkenden Tochter, die das „plötzliche Verschwinden“ der Mutter nicht an sich herankommen und die Nähe des Vaters nicht zulassen kann; und da ist der Sohn, der in seiner Überforderung ein wenig an den verhassten Vater erinnert, und der mit seinen Vorurteilen ihm gegenüber mindestens so viel zu kämpfen hat wie mit dem Tod der Mutter. Götz Schubert, Max Riemelt und besonders Mathilde Bundschuh („Geliebtes Kind“) liefern preiswürdige Darstellerleistungen ab.
„In seiner spröden, sparsamen Filmsprache entwickelt ‚Tage die bleiben“ eine enorme emotionale Dichte. Schauspieler und Buch überzeugen ebenso wie die tiefe menschliche Haltung.“ (Begründung der Jury Max Ophüls Preis 2011)
Foto: WDR, BR / Toccata Film
„Tage die bleiben“ ist ein Debütfilm, wie es ihn nur alle zwei, drei Jahre einmal gibt. Ein Film, der sich in die Reihe mit Goettes „Auf dem Eis“ oder Schomburgs „Über uns das All“ stellen lässt. Eine solche lebenskluge Tiefe, ein solches Fingerspitzengefühl bei Buch, Dramaturgie, Psychologie und ein solch präzises, durch mehrere Altersklassen gehendes Figurenspektrum kann man für gewöhnlich von einem Erstling nicht erwarten. Und erst recht nicht diese feinen Nuancierungen der Stimmungslagen: in diesem Film wird nicht nur Trübsal geblasen. Immer wieder findet Strietmann Wege, mit Tragikomik und Ironie stimmig für Entlastung zu sorgen. Da sind beispielsweise die Teenager-Eskapaden der Tochter und ihrer sexophilen Freundin; da ist der befreundete Junior-Bestatter, der sich ständig in einer Rollenkollision befindet und nie so ganz den Dreh hinbekommt zwischen Pietät und Jovialität. Und da ist die Annäherungsszene zwischen Vater und Sohn, nach einer leicht melodramatischen Trauersequenz, in der beide erstmals in der Lage sind, die Schleusen zu öffnen und lauthals zu weinen: diese Annäherung am Abend vor der Beerdigung ermöglicht ausgerechnet eine Folge der Barbara-Salesch-Gerichtsshow, in der der Sohnemann einen berlinernden Auftritt hat. Über diesen „Dreck“ können sich Vater wie Sohn ausschütten vor Lachen.
„Tage die bleiben“ ist ein vermeintlich kleiner Film mit dem Potenzial für ein größeres Publikum als für die Gruppe von Arthaus-Fans, die sich im WDR-Dritten nach 23 Uhr Debütfilme anschauen. Dieser Film hat eindeutig das Zeug, an die drei Millionen Zuschauer auf dem eingeführten anspruchsvollen Mittwochs-Fernsehfilm-Platz der ARD zu holen (dort lief im Übrigen auch „Unter dem Eis“). Der WDR täte gut daran, diesen „erwachsenen“ Film über das Thema Trauer spätestens nächstes Jahr ins ARD-Sommerprogramm einzubringen. Denn es sollte zum Auftrag des öffentlich-rechtlichen Fernsehens gehören, „wichtigen“ Filmen die adäquate Plattform zu bieten, um sie möglichst vielen Zuschauern näherzubringen.