Die Bilder sind kaum auszuhalten, aber noch schlimmer ist die Tonspur: Wenn die neunjährige Benni ausrastet, dann schreit sie sich die Seele aus dem Leib; und sie hört erst wieder auf, wenn sie ein starkes Beruhigungsmittel bekommen hat. Da diese Momente oft auch mit Wutanfällen einher gehen, kommt es schließlich zu einer erschütternden Szene, die sich einbrennt: Weil ein kleiner Junge beim Gerangel um ein Eis den Fehler begeht, das Mädchen im Gesicht zu berühren, schlägt Benni seinen Kopf wieder und wieder auf den Boden. Der Kinofilm „Systemsprenger“ war der Überraschungserfolg des Jahres 2019. Das Sozialdrama von Regiedebütantin Nora Fingscheidt ist mit Auszeichnungen geradezu überschüttet worden, darunter allein acht Würdigungen beim Deutschen Filmpreis. Die Leistung von Helene Zengel ist schlicht sensationell; kein Wunder, dass sie mittlerweile auch mit Tom Hanks gedreht hat („Neues aus der Welt“, 2020). Wie die Regisseurin ihre junge Hauptdarstellerin geführt hat, ist in der Tat alle Preise wert. Respekt gebührt auch dem ZDF, dass es diesen zweistündigen Film, eine Koproduktion der Redaktion Das kleine Fernsehspiel, um 20.15 Uhr zeigt, zumal Fingscheidt, die auch das Buch geschrieben hat, auf eine klassische Dramaturgie verzichtet.
Das Werk wirkt ohnehin fast dokumentarisch: Die Kamera begleitet das Kind quasi auf Schritt und Tritt. Warum es so ist, wie es ist, wird nur angedeutet. Die panische Reaktion, wenn jemand ihr ins Gesicht fasst, rührt von einem frühkindlichen Gewalttrauma: Als Benni ein Baby war, sind ihr die vollen Windeln in Gesicht gedrückt worden. Ein Besuch bei ihrer Mutter verdeutlicht, warum sie woanders besser aufgehoben ist: Bianca (Lisa Hagmeister) ist mit dieser tickenden Zeitbombe, die jederzeit und immer wieder explodieren kann, komplett überfordert. In einer weiteren von vielen furchtbaren Szenen schlägt Benni ihre Mutter mit einer Kunstkeramik nieder, woraufhin Biancas Freund ihr einen Fausthieb verpasst und sie in den Schrank sperrt. Fingscheidt muss diese Momente gar nicht besonders inszenieren; die Ereignisse sind so unerhört, dass sie für sich sprechen. Der Film verlässt die dokumentarische Erzählweise im Grunde nur, wenn die Wut wie eine Welle über Benni schwappt und sie buchstäblich Rot sieht. Anschließend rast sie gern davon, verfolgt von einer entfesselten Kamera (Yunus Roy Immer) und angetrieben von einer tempogeladenen Musik (John Gürtler).
Foto: ZDF / kineo / Yunus Roy Imer
Natürlich erzählt „Systemsprenger“ von einem Schrei nach Liebe: Das Mädchen will nichts anderes als zu seiner Mutter zurück. Mindestens so berührend wie das traurige Schicksal der jungen Hauptfigur ist daher die Hilflosigkeit der Menschen, die sich des Kindswohls angenommen haben. Eine besondere Rolle spielt dabei Gabriela Maria Schmeide als Frau Bafané vom Sozialen Dienst. Weil es nie lange dauert, bis Benni wieder für einen Eklat sorgt, hat sie eine regelrechte Odyssee hinter sich. Deshalb landet sie immer wieder in der Inobhutnahmestelle für Kinder, die vom Jugendamt aus zerrütteten Familien geholt werden, aber auch hier kann sie nicht bleiben. Eine Ärztin schlägt daher vor, sie in eine Intensiv-Betreuung ins Ausland zu schicken. Letzte Hoffnung für Benni ist ein Gewalttherapeut, der normalerweise mit straffälligen Jugendlichen arbeitet. Micha Heller (Albrecht Schuch) hat selbst einschlägige Erfahrungen gemacht und weiß, wie es ist, wenn die Hauptsicherung durchknallt. Er zieht sich mit dem Kind drei Wochen in eine Waldhütte zurück. Dort gibt es weder Strom noch fließendes Wasser; und natürlich auch kein Fernsehen. Tatsächlich kommt Benni endlich zur Ruhe, aber damit es nach der Rückkehr in die Zivilisation prompt wieder vorbei, und weil Micha die emotionale Distanz verliert, muss er schließlich gar um das Leben seines Babys fürchten. Kurz ergibt sich ein Hoffnungsschimmer, als Bianca mitteilt, sie habe sich von ihrem Freund getrennt und könne die Tochter wieder zu sich nehmen, aber als sie einen Rückzieher macht, ist selbst die Engelsgeduld von Frau Bafané erschöpft.
Die unmittelbare Wirkung des Films resultiert nicht zuletzt aus Bennis Erscheinung: Wenn sie nicht gerade wieder mal eine Kaskade unflätiger Schimpfwörter über die Erwachsenen ergießt, kann sie ein reizendes Mädchen sein, das durchaus liebevoll mit kleineren Kindern umgeht; bis sie nach der nächsten Provokation wieder jede Kontrolle verliert. Die abgrundtiefe Verachtung, die in solchen Momenten aus ihren Blicken spricht, erinnert frappierend an den kindlichen Antichristen aus der vierzig Jahre alten Filmreihe „Das Omen“.
Foto: ZDF / kineo / Yunus Roy Imer
Zwei Pressestimmen zum Kinostart von „Systemsprenger“:
„Systemsprenger“ hätte leicht ein Leidensporno werden können oder ein Exemplar der in Deutschland sehr beliebten Form des didaktischen Sozialproblemfilms mit anschließender Talkshowdiskussion. (…) Gewöhnlich ist wenig, was im Rahmen eines solchen Formats suggeriert und gesagt wird, ganz falsch. Aber auch nichts wirklich richtig. Weil die Figuren der Filme nicht der Last entkommen, ein Problem zu repräsentieren. Weil dessen Rationalisierung von vornherein mitgedacht ist. Weil in den Diskussionsrunden fast immer nur Phrasen gedroschen werden und man sich auf Gemeinplätze einigt. Glücklicherweise ist „Systemsprenger“ kein solcher Film geworden. Das liegt am Mut der Regisseurin Nora Fingscheidt, Fragen offenzulassen. An der Ambivalenz und Leuchtkraft seiner Hauptfigur, beeindruckend dargestellt von Helena Zengel. Benni wird der Freiraum zugestanden, nicht nur ein Problem, sondern auch ein beeindruckend lebendiger Charakter zu sein. Letztlich verkörpert ein solches Kind ja eine wesentliche Energiequelle für Kunst. Alle Widersprüche sind in ihm vereint. Es kann für alles Gute stehen, aber auch zerstörerisch wirken. (SZ)
Es gibt hierzulande kaum eine ausgeprägte Tradition für das, was Nora Fingscheidt versucht. Am ehesten könnte man noch „24 Wochen“ (2016) von Anne Zohra Berrached als Vergleich heranziehen, ein Drama über eine Spätabtreibung. Früher sprach man in solchen Fällen von Problemfilmen. In der Regel sind es Individuen, die in solchen Geschichten an ihre Grenzen geraten. Nora Fingscheidt geht aber noch einen Schritt weiter, denn sie findet in Benni eine Figur, an der man eigentlich grundsätzlich verzweifeln könnte. Dass das nicht geschieht, ist der eigentliche Stachel des Films. Denn er zeigt ja nicht nur Benni, mit schmerzhafter Intensität dargestellt von Helena Zengel. Er zeigt vor allem auch die, die es mit Benni zu tun bekommen. Er zeigt die Routinen, auf die Benni trifft. „Ich muss jetzt leider weitermachen“, sagt die Ärztin im Krankenhaus, und lässt den Betreuer (…) einfach stehen. Er sieht Benni in diesem Moment hinter Glas, festgeschnallt, sediert. Dieser Blick aus den leeren Augen des Kindes auf eine verschlossene Tür ist in diesem Fall das Echo seiner gescheiterten therapeutischen Bemühungen. Zu diesem Blick kehrt Fingscheidt immer wieder zurück, wie in einer erzählerischen Kontraktion, in der Benni dann aber nicht apathisch wird, sondern Kraft zu sammeln scheint für den nächsten Ausbruch. (FAZ)