Ein Haus in der Kölner Südstadt, drei Wohnungen, drei befreundete Paare zwischen 40 und Mitte 50, die ihre Beziehungen, Lebenskonzepte und beruflichen Entwicklungen auf den Prüfstand stellen. Da ist Anne Lehmann (Anke Engelke), Sozialpädagogin an einer Gesamtschule, die eine Affäre hat und Trennungsabsichten hegt. 20 Jahre scheinen eine zu lange Zeit zu sein. Dieses Gefühl kennt auch ihr Mann Martin (Matthias Matschke). Die Ehekrise wächst sich bei ihm allerdings zu einer schweren Lebenskrise aus: Der Soziologe hat seine Anstellung an der Uni verloren. Bei den Fröhlichs hingegen gerät die Beziehung in Schieflage, als Saskia (Bettina Lamprecht) ihre Kinderpause beendet, Karriere macht und damit Kai (Alexander Hörbe), der als freier Wirtschaftsjournalist zu kämpfen hat, noch mehr unter Druck setzt; denn jetzt muss auch er sich häufiger um die kleine Polly kümmern. Ganz anders ist die Stimmung bei Eva (Andrea Sawatzki) und ihrer neuen Errungenschaft Thomas (Dominic Raacke): Sie kennen sich erst drei Monate. Er ist gerade bei ihr eingezogen. Noch kribbelt es im Bauch. Und wenn es mal einen Hauch von Problem geben sollte, lächelt oder rationalisiert die Notärztin das kurzerhand weg. Diesmal will sie es nicht wieder vermasseln.
Foto: ZDF / Martin Valentin Menke
Freundschaften haben überdauert, die Beziehungen sind in die Jahre gekommen
Bei einem Abendessen wird „der Neue“ den Freunden vorgestellt. Jeder zeigt sich von seiner typischen, nicht immer besten Seite. Dieses „lockere“ Beisammensein ist die perfekte Exposition für diese kleinen und größeren Alltagsdramen. Drehbuchautor Magnus Vattrodt bleibt bei den Geschichten nah an der Erfahrungswelt seiner Figuren, bürgerliche Mittelschicht, höherer Bildungsstand; es sind Menschen, bei denen es in der zweiten „Halbzeit“ des Lebens nicht mehr ganz rund läuft. Während die Freundschaften überdauert haben, sind die Beziehungen in die Jahre gekommen. Die Zeit scheint reif zu sein für einen Wechsel, für Veränderungen in Liebe oder Beruf, für Trennungen. „Südstadt“ erzählt private Geschichten – und weil diese sehr genau beobachtet sind und die Charaktere sich mit ihren Haltungen und Wertvorstellungen nicht verstecken, fehlt dem Film auch nicht der Blick fürs gesellschaftliche Große und Ganze. Der gekündigte Akademiker wehrt sich vehement dagegen, „ein neoliberal rund gelutschtes Zäpfchen, das ohne Widerstand in den Arsch des Kapitalismus flutscht“ zu sein, und schimpft auf den Narzissmus der Zeit (vor allem auch deshalb, weil er persönlich nicht mal eine anständige Bewerbung zustande bekommt). Bei den Fröhlichs rückt vor allem die familienunfreundliche Arbeitswelt ins Zentrum ihrer Ehekrise. Im Soziotop der Lehrer, Akademiker & Journalisten übernimmt das frisch verliebte Paar, die Ärztin und der Head-Hunter, in doppelter Hinsicht die Außenseiterrolle. Von Sozialem wird erzählt, es schwingt mit, am Rande. Die Erzählperspektive ist aufs gelebte Leben gerichtet.
Und darin ist der zweifache Grimme-Preisträger Magnus Vattrodt ein Meister. Mehr noch als in den extrem wortlastigen Kammerspielen „Liebesjahre“ (2011) oder „Ein großer Aufbruch“ (2015) versteht er es in „Südstadt“, die Geschichten aus dem privaten Psychosumpf herauszuholen, sie durch den Faktor Zeit (es sind hier nicht nur zwei, drei Tage) vielfältiger zu gestalten und ihnen auf diese Weise mehr Dynamik zu geben. Aus der größeren Bewegungsfreiheit der Charaktere, die mehr handeln dürfen und weniger reden müssen, und der damit sinnlicher vermittelten Handlung ergibt sich auch für den Zuschauer ein größerer Spielraum, diese Geschichten zu lesen. Außerdem sind sie sehr viel leichter zu „verstehen“. Hier gibt es kein Dauerbombardement wohl gesetzter Worte und rhetorisch brillanter Pointen. Hier bestimmt der Alltag die Sprache. Ein Beispiel: „Martin?“, sagt Anne beim Betreten der Wohnung. „Arbeitszimmer“, kommt es zurück. Sie: „Wir sind nachher oben eingeladen, Eva will uns Thomas vorstellen.“ Er: „Ja, ja, ich weiß.“ Sie: „Ich aber nicht. Hättest du mir ruhig mal sagen können.“ Er: „Du, wir sind nachher oben eingeladen; Eva will uns ihren neuen vorstellen.“ Diese vielschichtige Miniatur einer Entfremdung sagt mehr als ein gedrechselter Dialogwechsel; sie spricht den Zuschauer an über mehrere Wahrnehmungs-Kanäle (optisch: Martin schaut Anne gar nicht an, sieht also nicht ihren bösen Blick).
Foto: ZDF / Martin Valentin Menke
Worte knallen einem nicht die Bedeutung um die Ohren. Der pragmatische Aspekt von Sprache ist in diesem Drama sehr viel offensichtlicher. Auch ist das sprachliche Gefälle zwischen einigen Figuren größer als in den beiden oben genannten Vattrodt-Dramen. Matthias Matschkes Ex-Dozent von der traurigen Gestalt scheint sich seine Satzgeschosse bereits in seinem introvertierten Frust vorformuliert zu haben, um sie irgendwann abzufeuern. Einen außergewöhnlichen Sprachstil pflegt vor allem Andreas Sawatzkis Eva: Sie will bei ihrer neuen Beziehung alles richtig machen; offenbar hat sie allerhand Beziehungsratgeber gelesen, macht auf vernünftig und muss sich mit Sätzen wie „Es war richtig, dass du mit ihr gesprochen hast, auch für sie“ oder „… Du hast mich ernst genommen und das ist richtig“ ständig vergewissern, dass alles gut wird. Die anderen sprechen, wie man eben spricht, wenn man sich gut kennt: verdichtete Alltagssprache, gern auch auf Kosten des Partners und bei Bettina Lamprechts Saskia auch schon mal in Anwesenheit der Tochter („Kai, du dumme Wurst“). Der ironisch genervte Unterton findet mit Vorliebe Anwendung in Anwesenheit von Dritten. Besonders beim Treffen zu Beginn des Films machen übergriffige Bemerkungen die Runde.
Handlungsmotor sind die Lügen und die mehr oder weniger kleinen Unwahrheiten, das Schweigen und Verschweigen. Zunächst ist es Martins Lüge, die bald zu einem Lügen-Gebäude angewachsen ist, seine Lebenskrise, die seine und Annes Existenz aufs Spiel setzt; entsprechend scheint dies der Hauptkonflikt des Films zu sein. Doch während sich der Ex-Akademiker mit Cowboyhut und Luftgitarrenspiel im Schlussdrittel wieder fängt, macht das Lügenspiel bei den Freunden die Runde. Bei Thomas und Eva könnten die Probleme mit der Wahrheit von der subjektiven Sicht abhängig sein, mit der sich Lebenssituationen beurteilen lassen. Ein Besuch bei der Noch-Gattin ihres „Mr. Right“ jedenfalls lässt Zweifel aufkommen an Thomas’ Glaubwürdigkeit. Die Lösung von Evas Beziehungsproblemen auf der Zielgeraden ist mit ihren mehrfachen Wendungen und einer bitteren Wahrheit ein dramaturgisches Meisterstück. Auch zwischen Saskia und Kai steht am Ende eine Lüge, die das Format einer veritablen Lebenslüge besitzt. Vattrodt spielt mit der Ironie schicksalhafter Ereignisse, die aber auch ein halbes Happy End haben können, und beendet seine Geschichten – wie es sich für ein solches Alltagsdrama gehört – moderat offen. Das Leben geht weiter. Das entspricht auch der Erzählhaltung des Films. Die Charaktere bestimmen größtenteils den Ton. Sie haben ihr „Schicksal“ selbst in der Hand. Der Rest ist Realismus: ein Leben, das nicht unbedingt gerecht ist, nicht immer lustig, nicht logisch und dem nicht nur mit Vernunft beizukommen ist.
Foto: ZDF / Martin Valentin Menke
Dass die Geschichten von „Südstadt“ so wunderbar aufgehen, liegt auch an der klugen Verzahnung der anschlussfähigen Plots und an Vattrodts Dramaturgie der narrativen Auslassungen. Diese Lücken werden dem Zuschauer entweder „ungefüllt“ mit auf den Weg gegeben wie am Anfang die unbeantwortete Frage der Scheidungsanwältin „Wie konkret sind denn Ihre Trennungsabsichten?“. Oder sie bestimmen den Erzählfluss und sorgen für Tempo. „Nur Baguette für nachher“, sagt Saskia im Treppenhaus. „Was ist nachher?“, fragt Anne. Die Auflösung wird in der folgenden Szene nachgereicht. Später sehen wir Anne bei Martins ehemaligem Professor und Eva bei Thomas’ Ex-Frau. Die Szenen werden nur angerissen: wirkungsvoll ausgeführt werden sie wenig später im Gespräch mit dem Partner. So vermeidet Vattrodt Redundanz, nimmt der entscheidenden Paar-Interaktion nichts vorweg und hält so die Handlung zielgerichtet und elegant in Gang. Andere Bezüge sind sowohl inhaltlich als auch dramaturgisch wichtig: „Wer einmal ablehnt wird nicht mehr gefragt, so läuft das Spiel“, weiß der freie Wirtschaftsjournalist Kai. „Hast du’s mal probiert?, fragt Saskia zurück in einer vorzüglich komponierten Streit-Szene. Später gibt es die umkehrte Situation: „Ich kann da nicht früher weg“, sagt Saskia. „Schon mal probiert?“, weiß darauf Kai die passende Antwort – und beide sind sich dieser Retourkutsche sehr wohl bewusst. Das ist typisch für die Kommunikation in diesem Film: Die Figuren haben oftmals auf ihre Weise recht und sie werden gleichsam nicht an der kurzen Autorenleine geführt. Und oft sind es kleine, beiläufige Zeichen, die die innere Befindlichkeit einer Figur ausdrücken und die dazu noch als möglicher narrativer Ausblick fungieren: Das kaputte Vogelhäuschen in Thomas’ ehemaligem Garten, das er zurechtrückt, ist ein solches Zeichen. Später wird er es sogar reparieren.
In Regisseur Matti Geschonneck hat Magnus Vattrodt seinen Meister gefunden. Beide haben in „Südstadt“ zum achten Mal (seit 2011) miteinander gearbeitet. Dem dramaturgischen Prinzip der Auslassungen entspricht Geschonnecks filmische Montage der Verknappung. Und er ist ein Schauspieler-Regisseur. Es ist schon ein Genuss diesen so unterschiedlichen Mimen zuzuschauen: Anke Engelke, die einstige Komödiantin, die sich zu Beginn mit dem großartigen Matthias Matschke, der ja auch ungeheuer komisch agieren kann, einen Wettbewerb in Sachen Leidensmiene liefern muss (und damit ihren späteren Beerdigungsblick quasi vorwegnimmt). Umso mehr lassen sich später die feinen Nuancen in beider Mimik und Gestik erkennen. Ein fast komischer Kontrast ist dagegen das Beziehungsspiel zwischen Andrea Sawatzki und Dominic Raacke, Evas zwanghaftes Alles-richtig-machen-wollen und Thomas’ versuchte Entspanntheit (nur nicht diese permanenten Beziehungsdiskussionen!): das ist schön tragikomisch. Ähnliches gilt für das köstlich realitätsnahe Hickhack der berufstätigen Eltern: Bettina Lamprecht & Alexander Hörbe geben Saskia & Kai, beide noch nicht resigniert, kraftvoll und kämpfend, sie haben noch den nötigen Mumm, sich lautstark Vorwürfe zu machen – bis das „Schicksal“ die neue Rollenaufteilung beinahe kippen lässt. Sie haben noch ein paar Jahre, bis die Lebensweisheit von Martins Vater für sie akut wird: „Nach 20 Jahren braucht man keine Gründe, sich zu trennen; die hat man sowieso. Nach 20 Jahren braucht man Gründe, zusammenzubleiben.“ (Text-Stand: 25.1.2018)