Winter in Stralsund. Ein junger Mann ist spärlich bekleidet in einem Wald tot aufgefunden worden. Offenbar eine Strafmaßnahme. Vielleicht zur Abschreckung, als eine Botschaft für andere gedacht. Der neue Fall für Nina Petersen (Katharina Wackernagel) und Karl Hidde (Alexander Held) hat eine tragische Vorgeschichte: Bei dem Toten handelt es sich um den Kleinkriminellen Mario (Junis Marlon). Einen Tag vor dem Leichenfund sind er und seine Freundin Daria (Lea Drinda) wegen eines Kofferraums voller Ecstasy festgenommen worden. Kommissariatsleiter Thomas Jung (Johannes Zirner) hat die beiden allerdings nach Absprache mit dem BKA wieder auf freien Fuß gesetzt. Grund: Der junge Mann ist in einem anderen Fall ein wichtiger Informant. Die beiden Halbstarken wurden von einer polnischen Organisation für Diebeszüge angeheuert. Gewohnt haben sie mit anderen „Kindern“ in der Pflegefamilie von Wiebke Goosen (Catrin Striebeck) auf einem abgelegenen Hof. Kollege Uthman (Karim Günes) hat bald den Russen Juri Kaczmarek (Oleg Tikhomirov) als Mittelmann recherchiert. Und Daria ist nach einer Hof-Razzia auf der Flucht vor der Polizei, aber auch vor Juri, der sich um sie „kümmern“ soll. Sie ist nicht allein. Mit ihr unterwegs ist Jo (Jack Owen Berglund), der Sohn von Maren Brandt (Franziska Hartmann), einer alten Freundin von Nina Petersen, mit dessen dysfunktionaler Familie es die Polizistin schon einmal zu tun bekommen hat.
Foto: ZDF / Gordon Timpen
„Wilde Hunde“, der neunzehnte Film aus der ZDF-Krimi-Reihe „Stralsund“, nimmt Bezug auf „Blutlinien“, Episode 17 (mit 7,44 Millionen Zuschauern der bislang erfolgreichste Film der Reihe): Damals stand der Bruder von Petersens Jugendfreundin im Zentrum der Ermittlungen, diesmal ist es der Sohn, der der alleinerziehenden Mutter Sorgen bereitet. Fasziniert von der halbwüchsigen Polin Daria schlägt er sich mit ihr gemeinsam durch das deutsch-polnische Grenzland – und auf die falsche Seite. Ein Zwischenfall lässt die Situation tragisch eskalieren. Was als Krimi beginnt, schlägt rasch in ein packendes Drama mit Thriller-Potenzial um, das allerdings dann doch passenderweise die Ausfahrt Road-Movie nimmt, um auf der Zielgeraden zwei Handlungsfäden mit Wucht, Tempo und Emotion zusammenzuführen. Psychologisch, dramaturgisch und Suspense-technisch ist das Ganze überaus gelungen. Autor-Regisseur Lars Henning, der auch bei „Blutlinien“ (Buch: Olaf Kraemer) Regie führte, beweist hier einmal mehr, dass Spannung auch ohne Whodunit möglich ist. Narratives Herzstück dieses Krimidramas sind die Jugendlichen, ihre Abwege, ihre Ziellosigkeit, der verzweifelte Wunsch nach Nähe und etwas Lebensfreude. So ist es besonders das Mitgefühl mit den beiden jugendlichen Charakteren, die „Wilde Hunde“ emotional funktionieren lässt.
Foto: ZDF / Gordon Timpen
Auch was die Erzählperspektive angeht, ist der Film kein klassischer Ermittler-Krimi. Die Ebene der Flüchtigen ist mindestens so präsent wie die der Kommissare. Die polnische Organisation steht außerhalb der Reichweite deutscher Ermittlungen. Darum geht es aber auch nicht. Früh erkennt man, dass sich die „Stralsund“-Episode um diese jungen Figuren und das Drama der Petersen-Freundin drehen wird. Lea Drinda („Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“) ist ohnehin das Gesicht des Films, das einen die emotionale Achterbahnfahrt ihrer sprunghaften Figur nachempfinden lässt, und Jack Owen Berglund sowie Franziska Hartmann erweisen sich wie bereits in „Blutlinien“ als eine sehr gute Besetzung. So ist die nächtliche Szene zwischen Hartmanns Figur und Nina Petersen ein Höhepunkt des Films. Eine tragisch angehauchte Miniatur über zwei weibliche Lebensmodelle, die sich beide Frauen so nicht rausgesucht haben. Die Alleinerziehende träumte nie vom Muttersein, und die Polizistin war bekanntlich schon einmal schwanger, wurde bei einem Schusswechsel aber schwer verletzt und kann keine Kinder mehr bekommen. Eine filmisch gut aufgelöste Szene, die vor alllem vom nuancierten Spiel von Hartmann und Wackernagel lebt. Dagegen fällt eine andere „Beziehungsszene“ deutlich ab: Als Petersen mit Jung Schluss macht, kommt das wenig überraschend, wirkt längst überfällig. „Ich fühl mich allein, auch wenn du da bist.“ Dieser eine gute Satz hätte ausgereicht; stattdessen folgen noch einige weniger gute, typische Drehbuchsätze wie „Ist es schon zu spät, oder gibt es noch die Möglichkeit, um dich zu kämpfen.“ Eine undankbare Szene. Vor allem für den Mann, der auch als Chef mal wieder keine gute Figur macht.
Und die anderen Kollegen? Die sind diesmal so gut wie überflüssig. Hidde trabt mit und Uthman macht auf fleißiges Bienchen, bevor er von der Bildfläche verschwindet. In den Anfangsjahren von „Stralsund“ gab es sehr viel mehr Subtext zwischen dem stark fluktuierenden Team, was aus der damals mit Action angereicherten Polizeifilm-Reihe bisweilen arge Räuberpistolen machte. Der Drama-Touch steht der Reihe gut; besonders bei einem Regisseur wie Lars Henning („Kaltfront“, „Tatort – Der Turm“) und bei einer so vorzüglichen Besetzung. Umso konventioneller wirken dagegen die Interaktionsszenen auf dem Präsidium. Bei den Besprechungen der Kommissare bekommt jeder seinen (Erklär-)Satz, damit der Zuschauer gut über den Fall informiert ist – und keiner hier umsonst rumsteht. Warum solche Funktionsszenen, auf die auch andere (gute) Krimis nicht verzichten, einem in einer Reihe wie „Stralsund“ aufstoßen, könnte daran liegen, dass es dem aktuellen Team im Gegensatz beispielsweise zum „Tatort“ Dortmund oder „Polizeiruf“ Rostock an Charakter fehlt. Daran dürfte sich in dieser Konstellation erst mal nicht viel ändern. Von daher ist es nur logisch und konsequent, sich Tiefe und Tragik, Emotion und Empathie vor allem aus den Episodenplots zu holen. Und vielleicht können diese ja auf die durchgängigen Figuren rückwirkend Einfluss nehmen. Am Ende von „Wilde Hunde“ jedenfalls macht Nina Petersen eine Anmerkung, die sich für eine gute Polizistin eigentlich verbietet… (Text-Stand: 6.1.2022)