Ein grausiger Fund ruft Jugenderinnerungen wach. Bei Renovierungsarbeiten eines Wohnhauses wird die Leiche einer jungen Frau entdeckt; sie wurde in den Boden der Garage einbetoniert. Bei der Toten handelt es sich um eine Schulkameradin von Nina Petersen (Katharina Wackernagel), die 1996 im Alter von 17 Jahren spurlos verschwand. Eng befreundet war das Mädchen mit Maren (Franziska Hartmann) und Henrik Brandt (Barnaby Metschurat). „Die Drei waren unzertrennlich“, erinnert sich die Kommissarin. Der Fundort der Leiche ist vom Tatort ziemlich weit entfernt – und das Haus, in der man die gut erhaltene Leiche fand, ist ausgerechnet das Elternhaus der Brandts. Maren hat es geerbt, nachdem ihr dementer Vater (Axel Siefer) ins Heim musste. Sie bewohnt es heute mit ihrem Teenager-Sohn Jo (Jack Owen Berglund) und ihrem Freund Ben (Stefan Rudolf), mit dem sie sich eine neue Existenz aufbauen möchte – eines jenseits dieser Familie, die ein Fluch zu sein scheint: der Vater, ein Tunichtgut, ein Schmuggler zu DDR-Zeiten, zwei Vorstrafen; der Bruder, jahrelang die einzige Stütze für Maren, ein ruheloser Kleinkrimineller, der erst gerade mal wieder aus dem Gefängnis entlassen wurde. Vor 23 Jahren war er der Hauptverdächtige. Auch jetzt rückt er wieder ins Zentrum der Ermittlungen. Kommissar Hidde (Alexander Held), der sich den ebenso verdächtigen Brandt Senior vornimmt, verfolgt allerdings eine andere Spur – und stößt auf ähnliche Morde im Zeitraum zwischen 1977 und 1989.
„Blutlinien“, Episode 16 der ZDF-Reihe „Stralsund“, ist ein Krimi, der von unheilvollen Verwandtschaftsverhältnissen und Verwerfungen erzählt. Der Hang zum leichtsinnigen und verbrecherischen Leben schreibt sich in der Familiengeschichte der Brandts fort. Oder ist es nur Pech, das an den Fingern jenes Mannes klebt, den in der Jugend Liebe, Freundschaft & Romantik noch retten konnten, der allerdings im Erwachsenenalter zunehmend den Halt verliert. Die Blutlinie hat nun auch die dritte Generation erreicht. Marens Sohn ist von ihr kaum zu bändigen. Erschließt sich das Familiendrama auch erst nach und nach, so erkennt man doch bald die verhängnisvolle Psychologie einer solchen asozialen dysfunktionalen Familie: So hat sich das Geschwisterpaar durch das kriminelle Milieu, in dem es aufwuchs, früh aneinandergeklammert. Für Maren ist daraus mittlerweile ein Würgegriff geworden. Henrik hingegen ist nach wie vor abhängig von ihrer Liebe. Er ist und bleibt ein Verzweifelter – und wird zur tragischen Figur des Films (was ihn deshalb aber nicht vom Mordverdacht freispricht). Trotz aller Krimizwänge gelingt es Autor Olaf Kraemer („Tatort – Zurück ins Licht“) in seinem zweiten „Stralsund“-Buch, die seelische Grundierung dieser Bruder-Schwester-Beziehung deutlich zu machen. Das Übrige dazu bei tragen die großartigen Darstellungen von Barnaby Metschurat & Franziska Hartmann, die man nach „Über Barbarossaplatz“ (2016) seit Kurzem öfter sieht im Fernsehen („Wahrheit oder Lüge“).
„Mich hat vor allem interessiert, wie Kinder von Kriminellen, die ja oft anders sozialisiert werden als Kinder aus vermeintlich ‚normalen‘ Familien, ihr späteres Leben meistern und die Vergangenheit integrieren.“ (Olaf Kraemer, Autor)
Über das Drama einer tiefen Verbundenheit, die zum Verhängnis werden kann, zieht „Blutlinien“ den Betrachter zunehmend in seinen Bann – motiviert von Inzest-Mutmaßungen und anderen Ahnungen, die bereits in der Eingangsszene mit dem unzertrennlichen Trio aufkommen. Die Geschichte bewegt sich langsam, da es aber dem Abgrund entgegen geht, Kraemer sich eine sehr existentielle Geschichte ausgedacht hat, sind Intensität und innere Spannung hoch. Und diese Tonlage bestimmt auch ein Stück weit den Ausgang – zumindest den des Familiendramas. Auch filmisch ist es die Stimmung der Verlorenheit, die fasziniert und sich eindrucksvoll über die Bilder legt. Im Schlussdrittel geht es in die vorpommersche Pampa, ein unwirtliches Niemandsland nahe der Küste, Grau in Grau – da sieht dann auch eine SEK-Einheit nicht wie der große Retter aus. Zwar kann sich der neue Teamleiter Thomas Jung (Johannes Zirner) als Krisenmanager beweisen, doch was sich durch seinen Chefposten für die junge Beziehung zwischen ihm und Petersen ändert, das wird sich erst in den nächsten Episoden zeigen. Für horizontale Erzählstränge bleibt bei diesem dichten Krimidrama kein Platz. Dafür gibt es weitere eindrucksvolle Szenen: Henrik Brandts Entlassung aus dem Knast setzt sich aus flüchtigen Großaufnahmen zusammen, in denen der Mensch keine Rolle spielt, dann öffnet sich das Gefängnistor: Ein Mann tritt wieder in die Freiheit – aber dieser Mann steht völlig neben sich. In Erinnerung bleiben auch die beunruhigenden Szenen mit Hidde und dem dementen Brandt Senior, die eine mal nachdenkliche, mal düstere Atmosphäre besitzen. Aber auch in eher beiläufigen Szenen setzen Licht und Schatten eindrucksvoll Akzente.
„Der Film bewegt sich eher langsam, aber mit einer unaufhaltsamen Bewegung auf einen Punkt zu, an dem sich die Lebenswege der Figuren noch einmal auf eine tragische und schicksalhafte Weise überschneiden. Daraus zieht der Film seine gewisse Kraft.“ (Lars Henning, Regisseur)
Mit Handlung und Bildsprache früherer „Stralsund“-Episoden hat „Blutlinien“ nicht mehr allzu viel gemein. Begann die ZDF-Reihe, die 2009 an den Start ging, mit einer deutlichen Affinität zum Thriller inklusive Action-Beigabe und später auch mit verstärktem Hang zum konsekutiven Erzählen bewegt man sich in den letzten Episoden stärker in Richtung Krimi-Drama. Ein erster Höhepunkt war diesbezüglich die bemerkenswerte Jubiläumsepisode „Doppelkopf“ (2019) – und auch „Blutlinien“ kann sich nun in jeder Hinsicht sehen lassen. Mit Lars Henning, der sich mit zwei düster-tragischen TV-Dramen („Zwischen den Jahren“ und „Kaltfront“) und dem HR-„Tatort – Der Turm“, eine eigenwillige, gruslige Parabel auf den Finanzkapitalismus, hervortat, hat man den passenden Regisseur für diesen Stoff gefunden. Gibt Nina Petersen ihre professionelle Distanz in dem persönlichen Fall auch nicht auf, so wirken doch menschlich-emotionalere Fälle wie dieser stimmiger für eine Schauspielerin wie Katharina Wackernagel als die Geschichten aus der Anfangsphase der Reihe, von denen vor allem ein Bild in Erinnerung bleibt: Die junge Kommissarin, die sich ihre Schussweste anlegt. Was vor elf Jahren noch etwas aufgesetzt wirkte, würde man wohl mittlerweile eher akzeptieren – trotzdem sieht man die 41jährige Schauspielerin lieber anders. Schießen und treffen darf sie allerdings auch diesmal. (Text-Stand: 7.4.2020)