Das erste und das letzte Wort hat Bob Dylan. Mit „Knockin‘ On Heavens Door“ beginnt das Dokudrama „Stammheim – Zeit des Terrors“ und mit dem seltener gespielten „Sad Eyed Lady of the Lowlands“ hört es auf. Auch Jimi Hendrix und Leonard Cohen stehen auf der Playlist von Andreas Baader & Co. oder geben einfach nur das hörenswerte Zeitgefühl der 1970er Jahre wieder. Jedenfalls verfügen die in Stuttgart-Stammheim inhaftierten RAF-Mitglieder über Radios und Plattenspieler, die sie überdies für die heimliche Kommunikation untereinander nutzen. Gudrun Ensslins Geigenspiel ist ebenfalls zu hören, aber Film-Komponist Jacki Engelken setzt ab und zu auch harte, rockige Akzente. Man schreckt förmlich hoch, wenn zu Beginn der erste Steckbrief (von Ulrike Meinhof) in roten Buchstaben über den Bildschirm wandert – ein musikalischer Weckruf. Wie den Mitangeklagten Baader, Ensslin und Jan-Carl Raspe werden Meinhof vier Morde und 54 Mordversuche bei sechs Raubüberfällen vorgeworfen. Dass die 1972 verhafteten und im April 1974 nach Stammheim verlegten Köpfe der ersten RAF-Generation auf Krawall gebürstet sind, macht Meinhof (Tatiana Nekrasov) bei ihrer Einlieferung mit einem schmerzhaften Tritt gegen den leitenden Vollzugsbeamten Horst Bubeck (Moritz Führmann) umgehend deutlich. Die Gerichtsverhandlung soll in einer eigens errichteten Halle direkt neben der JVA abgehalten werden.
Foto: SWR / Hendrik Heiden
Der Film spielt gewissermaßen in einer doppelten Festung. Er handelt im Wesentlichen davon, wie die Häftlinge, die sich in ihrer Ideologie eingemauert haben, hinter den Mauern des für sie eigens abgeriegelten Zellentrakts leben. Wie sie sich untereinander und gegenüber dem Wachpersonal verhalten. Wie sie den Kampf gegen den Staat fortzusetzen versuchen und auf Befreiung durch die Genossen draußen hoffen. Wie sie während des Hungerstreiks zwangsernährt werden. Wie sie sich kettenrauchend am Tisch über Strategiepapiere beugen und einzeln mit Vertretern des Staates verhandeln. Zwei Frauen und zwei Männer, die weiter Revolution spielen und die Illusion aufrechterhalten, sie könnten die Bürgerinnen und Bürger mit ihren Aktionen gegen den Staat mobilisieren. Gedreht wurde am Originalschauplatz. Stammheim war damals das Symbol für einen hoch gerüsteten Staat, der im Kampf gegen die RAF Bürgerrechte einschränkte. Die Spielszenen „basieren auf Protokollen, Kassibern (heimliche Nachrichten der Gefangenen) und Erinnerungen handelnder Personen“, heißt es im ARD-Presseheft. Auch die Befragungen von Bubeck und anderen vor dem Untersuchungsausschuss, der die Umstände des Todes von Baader, Ensslin und Raspe in Stammheim untersuchen sollte, hat Regisseur Niki Stein in grobkörnigen Bildern und mit Hans-Jochen Wagner als Ausschussvorsitzendem in Spielszenen miteinbezogen. Ausschnitte aus Fernsehnachrichten oder Radioreportagen, die von den dramatischen Ereignissen zwischen April 1974 und dem „deutschen Herbst“ 1977 zeugen, sorgen für ein Mindestmaß an Grundverständnis.
Foto: SWR / Hendrik Heiden
„Unser Anspruch ist, der RAF und ihren Protagonisten so nahezukommen, wie das noch kein Film vorher versucht hat“, wird Regisseur und Co-Autor Niki Stein im ARD-Presseheft zitiert. Allerdings stellt sich 50 Jahre nach den Ereignissen erst einmal das Gefühl umfassender Fremdheit ein. Die historische Distanz ist mittlerweile enorm, zumal die Demokratie aktuell eher von Rechtsaußen unter Druck gesetzt wird. Dennoch ist der Stoff nach wie vor relevant. Viele Anschläge, die Mitglieder der zwischen 1970 und 1998 aktiven RAF verübt hatten, sind nicht vollständig aufgeklärt. Vor dem Oberlandesgericht Celle wurde Ende März der Prozess gegen Daniela Klette eröffnet, und weitere ehemalige RAF-Mitglieder sind immer noch auf der Flucht. Die Zahl derjenigen, die die RAF und ihre Taten verklären, dürfte mittlerweile stark gesunken sein. Doch die teils unklare Faktenlage bietet immer noch Gelegenheit zur Mythenbildung, an dem sich am Schluss auch dieses Dokudrama ein Stück weit beteiligt. Eine eingeblendete Schrifttafel lautet: „Ob die Zellen in dieser Nacht abgehört wurden, ist bis heute umstritten. Die zuständigen Behörden bestreiten das.“ Hätten „die Behörden“ abgehört, hätten sie womöglich davon gewusst, dass sich Baader, Ensslin, Raspe und Ingrid Möller nach der Befreiung der Geiseln aus der Lufthansa-Maschine „Landshut“ in Mogadischu am 18. Oktober 1977 selbst töten wollten. So hätte der Staat die Häftlinge zwar nicht ermordet, wie die RAF und ihre Sympathisanten behaupteten, aber die Selbstmorde geschehen lassen. Ingrid Möller überlebte als einzige, Ulrike Meinhof hatte sich bereits am 9. Mai 1976 in ihrer Zelle in Stammheim erhängt.
Foto: SWR / Hendrik Heiden
Meinhof erscheint hier wie in früheren Darstellungen eher als tragische Figur, gesundheitlich angeschlagen durch die vorherige Isolationshaft und überdies gemobbt von den eigenen Genossinnen und Genossen. Während sie etwa vor Gericht immer noch als Sprachrohr der RAF auftritt, ist sie in der internen Hierarchie in Stammheim ganz ans Ende gerutscht. Tatiana Nekrasov spielt diese historische Figur in ihrer letzten Lebensphase als Mitleid erregende Außenseiterin, was sie menschlicher erscheinen lässt als die anderen RAF-Häftlinge. Steins Inszenierung deutet zudem an, dass Meinhof noch Gefühle für ihre beiden Töchter bewahrt hat, die sie für den bewaffneten Kampf gegen den Staat zurücklassen musste. Einen starken Eindruck hinterlässt auch Lilith Stangenberg, die mit ihrem Talent für extreme Figuren die boshafte und fanatische Seite der Gudrun Ensslin eindringlich zur Geltung bringt. Weibliche Solidarität ist in dieser linken Häftlingsblase ebenso wenig anzutreffen wie Selbstreflexion oder gar Reue. Insbesondere die Pfarrerstochter Ensslin propagiert radikalen Kampf ohne Kompromisse. Immer wieder attackiert sie auf rohe, vulgäre Weise Ulrike Meinhof, und auch für Andreas Baader (Henning Flüsloh) ist die ehemalige Journalistin die liebste Zielscheibe für fiese Kommentare. Nur Raspe scheint die Verachtung für Meinhof nicht zu teilen. Dass dieses Mobbing zu den Gründen für Meinhofs Selbstmord zählt, erscheint naheliegend. Charismatisch wirkt hier jedenfalls niemand.
Foto: SWR / Hendrik Heiden
Mit der RAF-Geschichte beschäftigt sich der am 1. Juli 1946 geborene Stefan Aust praktisch sein Leben lang: In seinem viel beachteten Sachbuch „Der Baader-Meinhof-Komplex“ arbeitete er bereits vor 40 Jahren umfassend die Entstehung und frühen Jahre der RAF auf. Uli Edel (Regie) und Bernd Eichinger (Drehbuch) verfilmten den Bestseller 2008 als krachendes Action-Kino. Aust war als Berater mit an Bord und arbeitete im Lauf der Jahrzehnte auch an verschiedenen TV-Dokumentation mit. Und dann gibt es da noch den anderen „Stammheim“-Film von Reinhard Hauff, der bereits 1986 Premiere hatte und den Goldenen Bären bei der Berlinale gewann. Das Drehbuch schrieb: Stefan Aust, der die Protokolle des 192 Tage dauernden Prozesses als Grundlage für ein semidokumentarisches Gerichtsdrama nutzte. Der Film – mit dem jungen Ulrich Tukur als aufbrausendem Baader – sparte die ausschweifenden politischen Vorträge der Angeklagten nicht aus und dokumentierte auch ausführlich die Beugungen des Rechtsstaats im Kampf gegen die RAF. Die öffentlich-rechtlichen Sender mochten sich damals lieber nicht an der Produktion beteiligen. Nun trauen sich drei ARD-Sender unter der Federführung des SWR mit stolzen 40 Jahren Verspätung doch noch an einen ähnlichen Stoff, der überdies von Spiegel TV produziert wurde – einem Unternehmen, dessen Mitgründer Stefan Aust einst war.
„Stammheim – Zeit des Terrors“ betont die Verachtung und Herablassung, mit der die Angeklagten das Wachpersonal als Vertreter des in ihren Augen verbrecherischen Staates behandeln. Dagegen steht der im Grunde gutmütige Horst Bubeck, der nur widerwillig die Zwangsernährung durchführt und Ulrike Meinhof eine warme Jacke empfiehlt, damit sie beim „Hofgang“ auf dem Dach nicht frieren möge. Die moralische Differenz zwischen den Terroristen und diesem Bürger in Uniform ist offenkundig. Dass die RAF bei ihren Anschlägen auch den Tod von Fahrern, Polizisten und Botschaftsangehörigen in Kauf nahm, daran erinnert zudem die begleitende SWR-Dokumentation „Im Schatten der Mörder – Die unbekannten Opfer der RAF“ (ab 17. Mai in der ARD-Mediathek und am 19. Mai, 21.45 Uhr, im Ersten). Wie aus Menschen, die für eine humanere Gesellschaft streiten wollten, derartig kalte und kaltblütige Typen werden können, damit setzt sich Austs Alterswerk allerdings kaum auseinander. Die politischen Debatten jener Zeit (Vietnamkrieg, NS-Vergangenheit, kapitalistische Ausbeutung), die im Gerichtsdrama „Stammheim“ zur Sprache kamen, spielen hier nur am Rande eine Rolle. Und an Henrich Breloers Zweiteiler „Todesspiel“, der umfassender, packender und zugleich tiefgründiger vom „deutschen Herbst“ und auch von Stammheim erzählte, reicht dieses Dokudrama ohnehin nicht heran.
3 Antworten
Zeitgeschichte erlebbar machen. Real dargestellt durch großartige Schauspielerinnen und Schauspieler. Das alles bietet der Film: „Stammheim“ in der ARD.
Einen Film oder auch eine Serie dieses Formats würde ich mir auch für die Zeit der Coronapandemie auf Deutschland bezogen wünschen. Nach dem Vorbild des Films: „Die Welt steht still“ (ZDF) wünsche ich mir eine Serie zur Chronologie der Coronapandemie. Angefangen von Webasto, über Bergamo, die Ansprache von Frau Dr. Merkel, den ersten Lockdown mit den täglichen Pressekonferenzen des Prof. Wieler (RKI), dem Tönniesskandal, der versuchten Erstürmung des Reichstagsgebäudes der Querdenker, der große Erfolg innerhalb kurzer Zeit der Herstellung eines Impfstoffes gegen COVID-19, der 2. Lockdown, das einsame und schlimme Weihnachtsfest 2020. Danach begann die Impfkampagne und wir hatten im Sommer 2021 die große Hoffnung endlich alles überstanden zu haben. Doch dann kam die DELTA-Variante und es wurde Herbst. Somit kam es fast zum „Supergau“ mit der „Operation Kleeblatt“, wo Coronapatienten in freie Krankenhäuser gebracht wurden mit der Hilfe der Luftwaffe, weil es kaum noch freie Betten in den Krankenhäusern gab. Herr Prof. Wieler warnte bereits vor der „Operation Kleeblatt“ am 18. November 2021, doch keiner wollte auf ihn hören…..bis heute mit Post-COVID, Post-VAC usw. Dabei sollte man alle Facetten der Pandemie einbeziehen und darstellen, wie z.B. das RKI, die Bundesregierung, die Ärzte und die Pflegekräfte, die Coronapatientinnen und Patienten, die Querdenker, der Hotelbesitzer, der Angst um seine Existenz hatte, die berufstätige Mutter, die ohne Kinderbetreuung darstand usw.
Außer mir wünschen sich das noch viele weitere Personen unterschiedlichen Alters. Also, liebe Fernsehsender macht euch endlich „an die Arbeit“!
Liebe Frau Bohl,
Sie „sprechen mir mit Ihrem Kommentar aus der Seele“. Ich empfinde unser TV-Programm schon lange als eine „Art Zumutung“. Ein Krimi folgt dem Nächsten, genau wie eine Castingshow der Nächsten folgt. Darum bin ich sehr erfreut den Film: „Stammheim-Zeit des Terrors“ in der ARD am Montag, den 19.05. 2025, sehen zu können. Filme wie diesen, aber auch Filme über die Corona-Pandemie in chronologischer Reihenfolge benötigen wir dringend. Meine Enkelin muss bis heute auf ausländische Medien, wie beispielsweise auf den Dokumentarfilm: „Stillstand“ aus Österreich über die Corona-Pandemie und auf die US-Serie: „Grey´s Anatomy, Staffel 17“ zurückgreifen, um für ihr Schulreferat die Pandemie Revue passieren zu lassen, weil es einfach an einer chronologischen Zusammenfassung in Spielfilmform und Dokumentation der Pandemie auf Deutschland bezogen, fehlt. Das ist unfassbar schade, weil es bis heute nur den eizigen Film: „Die Welt steht still“ (ZDF) über den Anfang der Pandemie auf Deutschland bezogen, gibt.
Wir brauchen auch insgesamt mehr Vielfalt in unserer Fernsehwelt. Viel öfters benötigen wir Filme, wie jetzt: „Stammheim“ oder „Aus dem Leben“ (ARD) oder den ZDF-Film: „Allein zwischen den Fronten“.
Für eine chronologische Darstellung der Corona-Pandmie, auf Deutschland bezogen, mit allen Facetten würde sich ideal die ARD-Serie: „Charité“ eignen. Ob ich das noch mit meinen 71 Jahren erleben darf, das ist eine ganz andere Sache. Ich glaube es nicht, weil die Fernsehsender „vor etwas Angst haben“, was wir nie erfahren werden..
Liebe ARD und an alle Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des Dokudramas: „Stammheim-Zeit des Terrors“,
danke, dass es endlich mal wieder einen Film mit Niveau und Ansruch gibt.
Es ist von enormer Bedeutung für uns, als Gesellschaft, aber insbesondere für uns junge Menschen, unsere Geschichte und Vergangenheit zu kennen und das in einem Dokudrama im Fernsehen sichtbar zu machen.
Ich möchte mich hiermit meinen beiden Vorrednerinnen anschließen und sie mit all Ihren Aussagen unterstützen. Ich bin 23 Jahre jung und auch ich fordere von allen Fernsehsendern die Corona Pandemie mit Dokumdramen und chronologischen Dokus im Fernsehen endlich sichtbar zu machen. Ebenso bitte auch ich um mehr Filme mit Niveau und nicht nur einen Krimi oder einen Rosamunde Pilcher Film nach dem anderen.
Ich hoffe, unsere Kommentare werden gelesen und endlich umgesetzt. Leider werden viele kritische Kommentare bei den Sendern in den Kommentarfunktionen gar nicht gezeigt, ansonsten wären es noch weit mehr Menschen, die sich für
die Darstellung der gesamten Corona Pandemie in Dokudramen und chronologischen Dokus einsetzen würden und auch für Filme mit Nivau.