Ein Mann hetzt durch Wien, verfolgt von der Polizei. Er flüchtet in eine Buchhandlung, nimmt Geiseln. Eine von ihnen ist Kriminalpsychologe Richard Brock. Sein Versuch, die Lage zu entspannen, scheitert. Der Mann erschießt sich. Davor hat jener Sebastian Ulmer ihm noch einen Kreuz-Anhänger gegeben, mit der Bitte, ihn einem Joseph Bacher auszuhändigen. Brock, ein Verhörspezialist, der gelegentlich für die Wiener Polizei arbeitet, vermutet hinter dem Drama – im Gegensatz zu Kommissar Mesek – mehr als eine Aktion eines pädophilen Psychopathen. Da es keinen Fall Ulmer geben wird, ermittelt Brock auf eigene Faust, unterstützt von seiner Tochter, selbst Polizistin, die ihn mit Informationen über den Toten versorgt: der unbescholtene Religionslehrer hat bereits mit neun Jahren einen Selbstmord-Versuch verübt. Jetzt wurde er anonym wegen des Besitzes von Kinderpornos angezeigt. Brock vermutet, dass jemand Ulmer das belastende Material untergeschoben hat. Die wohlhabende Familie des Selbstmörders ist wenig zugänglich, allein Ulmers Schwester Maria fühlt sich erotisch hingezogen zu dem charismatischen Psychologen. Und dann erschießt einer aus dieser Familie den Generalvikar Bacher – Freund oder Peiniger des Toten?
Foto: ZDF / ORF / Arte / Domenigg
„Racheengel“ ist die zweite Episode von „Spuren des Bösen“ – wegen des großen Zuschauer- und Kritikererfolgs (drei „Romys“) von ORF und ZDF zu einer losen Reihe verlängert. Wie schon der starke Auftakt ist auch dieser Film, abermals inszeniert vom österreichischen Ausnahme-Regisseur Andreas Prochaska, ein ungemein intensiver, angenehm unblutiger Psycho-Krimi. Kluge Köpfe, kranke Seelen – das ergibt schön kaputte Szenen und Dialoge. „Der gescheiterte Psychiater“, tituliert die Schwester des Toten Brock. „Und was sind Sie?“, erfragt er ihre Profession. „Einsam, glaub ich.“ Wien bleibt Wien: Freudsche Todessehnsucht veredelt nicht nur die Charaktere, sie liegt auch über den Bildern. Die Atmosphäre wirkt nicht erzeugt, sie scheint sich harmonisch aus dem Prinzip der Reduktion zu ergeben, ein Prinzip, das überall zu finden ist: im Plot, in jeder Szene, in jeder Einstellung, in jedem Satz, in jeder Geste, in jedem Wort. Die Gebrochenheit des Polizeipsychologen wird hier nicht zum Erkennungszeichen wie bei „Tatort“-Kommissaren Marke Faber, Keppler oder Lannert. Diese Gebrochenheit wird bei Brock zum filmischen Leitmotiv, sie wird spürbar in jedem Moment. Heino Ferchs Antiheld geht stoisch seinen Weg, als ob eine Last ihn am Schnellergehen hindern würde. Und so redet der Psychologe auch: in abgerissenen Sätzen, langsam, mit Bedacht, häufig mit belegten Stimmbändern. Für Richard Brock ist Sprache Arbeit. Und für den Zuschauer ist die Art und Weise, wie er etwas sagt, ein Schlüssel zu seiner Psyche.
Schon bei „Das Verhör“ hatte man den Eindruck, Heino Ferch schon lange nicht mehr so gut gesehen zu haben. Der Eindruck setzt sich bei „Racheengel“ fort. Mit so wenig Mienenspiel, eine so tiefe Wirkung zu erzielen, eine Ausstrahlung zu bekommen, die mehr als eine coole Oberfläche generiert, sondern die nach innen geht – das ist Schauspielkunst. Und mehr noch: hilfreich unterstützt wird Ferch von einer ebenso konzentrierten Ausstattung, von dem physischen Wechselspiel zwischen Gesprächsszenen und Brock-Solos, Szenen, in denen er einfach nur ist, was er ist, ein ständig Zweifelnder, und vor allem wird Ferch unterstützt von einer Kamera, die dieses Wien in einen exklusiven Dämmerzustand versetzt, ohne die Bilder mit dem üblichen TV-Düster-Krimi-Look zu übergießen. Prochaska & Co wissen, wie man filmisch erzählt. Die Welt der Zeichen befindet sich in einem ständigen Spannungszustand.
Foto: ZDF / ORF / Arte / Domenigg
Der Mut zur Nähe, zum sinnlichen Ausspielen von Konfliktsituationen, der Mut zu Momenten, die so minutiös erzählt werden, dass einem beim Zuschauen der Atem stockt – das und die Licht-Dramaturgie, das ist die Kinoqualität der Bilder von Kameramann David Slama. Er macht einen Lichtspalt in Großaufnahme zum spannenden „Seh-Ereignis“. Es folgt eine faszinierende, irritierende Szene: Gleich wird sich die Tür öffnen. Neben den verschwommenen Konturen des schlafenden Psychologen erscheint Maria, die introvertiert offensive Schwester des Toten (großartig: Ursula Strauss, die österreichische Kunzendorf). Wenig später sind beide in einem Raum. Ein Whisky, eine Zigarette, der Abstand zwischen ihnen verringert sich. Die Nähe wird spürbar, der Atem hörbar, die Lippen finden sich, der Versuch eines Kusses. Dann eine Frage, die nur wenig mit Erotik zu tun hat. „Würde ein 9-jähriger Junge versuchen, sich umzubringen, indem er sich die Pulsadern aufschneidet?“
„Spuren des Bösen 2“ ist großes Fernsehen. Viel mehr als ein (Einzelgänger-)Krimi. Mehr Spiel als Tätersuche. Ein Psychologe fordert seine Mitmenschen heraus, die Polizei, die Tochter, die Verdächtigen. Oft stellt er dem Unterbewussten eine Falle. Eine verletzte Seele trifft auf andere verletzte Seelen. Und doch wird bei Prochaska und Autor Martin Ambrosch die Verzweiflung nicht zelebriert. Der dritte Brock-Fall ist bereits abgedreht. Man darf sich freuen und dennoch sollte man sich davor hüten, die Schlagzahl der Reihe zu erhöhen.