Die Nacht liegt über Wien. Eine blonde Frau (Mavie Hörbiger) stöhnt lustvoll auf einem gesichtslosen Mann. Sie schminkt sich und verlässt das Haus. Auf der Straße verfolgt sie ein anderer Mann (Benjamin Sadler). Sie küssen sich, dann stößt er die Blondine vor ein Auto. Schnitt. „Unsere Augen zeigen, was wir fühlen – unbewusst. Ein angenehmer Reiz erweitert die Pupille um 25 Prozent“, doziert Richard Brock (Heino Ferch) in einer Vorlesung. Schnitt auf eine gut aussehende Frau, Clara Rink (Julia Koschitz), die den nicht mehr praktizierenden Psychiater um seine Einschätzung in einem persönlichen Fall bittet: Ihr Mann Johannes scheint wie sein Vater schizophren zu werden. Die Krankheit brach innerhalb von Wochen aus. Brock schaut sich den „Patienten“ an und gibt die dringende Empfehlung, ihn einweisen zu lassen. Mithilfe ihres Hausarztes (Harald Schrott) versucht es Clara Rink wenig später. Vergeblich. Das Ergebnis: eine Selbstverletzung, ein Messerangriff und die Flucht des psychisch Kranken. Brock hat unterdessen Kontakt mit der blonden Frau aufgenommen, die von Johannes attackiert wurde. Weil er ihr, einem Luxus-Callgirl, zu Hilfe eilt und dabei ein tragisches Unglück verursacht, bekommt er die ganze Härte der Justiz zu spüren.
Foto: ZDF / Petro Domenigg
Im sechsten Film aus der Reihe „Spuren des Bösen“ muss sich der psychologisch geschulte Held mit dem Krankheitsbild der Schizophrenie, aber auch den Varianten der menschlichen Lust auseinandersetzen. Die ersten Szenen von „Begierde“ verweisen bereits auf die zentralen „Themen“ des Films. Da ist das schizophrene Verhalten des Kranken, der zärtliche Kuss, dann der Stoß, eine potenzielle Tötungsabsicht. Da ist das Referat über das menschliche Begehren, das sich zwar physiologisch messen lässt, den Verstand aber völlig ausschaltet und deshalb nur bedingt erklärbar ist. Brock selbst scheint über den Dingen des profanen Trieb- und Liebesleben zu stehen. „Ich warte“, sagt er, „dass eine kommt, die mich will und umgekehrt“. Seinen Aufgaben nähert er sich mit stoischer Ruhe und konzentriertem Blick. In Brocks Kopf dagegen rattert es. Die „Fälle“ lassen ihm keine Ruhe. Er brütet ständig, aber spricht nur selten etwas aus. Heino Ferch leiht diesem Mann sein markantes Gesicht – und es ist die beste Rolle, die Ferch je gespielt hat, ein Glücksfall für ihn, für die Filme, für die Zuschauer. Und „Begierde“ ist eine besondere Episode dieser Ausnahme-Reihe, die seit 2011 als Koproduktion von ORF und ZDF besteht. Kein Krimi-Ermittlungsfall: Der Psychologe unterstützt diesmal nicht die Polizei bei ihrer Arbeit. Und selten war das Personal so überschaubar, die Handlung, die Schauplätze so reduziert und die Bildsprache so stark aufs Wesentliche konzentriert.
Foto: ZDF / Pedro Domenigg
Nicht die herkömmliche Krimidramaturgie, nicht die vorgestanzten Handlungsmuster übernehmen die Führung in diesem Film, sondern mehr noch als in den bisherigen Episoden von „Spuren des Bösen“ die Bilder. Die Menschen und die Situationen schälen sich häufig aus dem Schwarz der Nacht oder einer düsteren Stimmung heraus. Die Dunkelheit minimiert den sichtbaren Raum. In einigen Szenen wird die Umgebung stark stilisiert, bekommt geradezu etwas Schemenhaftes; es sind reale Räume, aber die Kamera macht sie abstrakt. Mit dieser Modifizierung der normalen raumzeitlichen Realitätsdarstellung nähern sich der Ausnahme-Regisseur Andreas Prochaska („Das finstere Tal“), der alle Episoden der Reihe nach den Büchern von Grimme-Preisträger Martin Ambrosch („Tatort – Angezählt“) inszeniert hat, und sein Kameramann David Slama („Unsere Mütter, unsere Väter“) der Wahrnehmung eines Schizophrenen an, gleichsam aber verschonen sie den Zuschauer von der Zeichenwelt des banalen Alltags. So kann sich dieser ganz auf das konzentrieren, was er sieht. Dieses Bildkonzept mit seinen Freiräumen und die Zeit, die der Film sich nimmt und dem Betrachter (zum Nachdenken) gibt, beteiligt diesen am Erzählen der Geschichte. Erst im Wahrnehmungs-Prozess entsteht das, was man „Spannung“ nennt, was bei Prochaska aber kein blindes sich Reizen aussetzen bedeutet, sondern ein Stück weit die Aktivität des Zuschauers erfordert.
Foto: ZDF / Pedro Domenigg
Lange Zeit tappt der Betrachter wortwörtlich im Dunkeln. Natürlich hat man Ahnungen, Vermutungen über das Sichtbare hinaus, aber dieses Verweilen im Käfig einer Krankheit, dieses Kammerspielhafte, eine Inszenierung, die alles konsequent entfernt, was dieses Drama um eine schreckliche Krankheit und um den unbändigen Sexualtrieb nicht weiterbringt, ist so faszinierend, dass in „Begierde“ für den Sehenden der Weg lange Zeit zum vornehmlichen Ziel wird. Und da der Krimi-Aspekt nicht im Vordergrund steht, wird die Geschichte, werden die Wege der Menschen über die 90 Minuten hinaus weitergehen – und damit auch die Beunruhigung darüber, auf was für verwegene Gedanken Menschen kommen können. Zum Beispiel die von Julia Koschitz einmal mehr sehr überzeugend (ganz im Prochaska-Stil: klar, konzentriert, kühl) gespielte verzweifelte Ehefrau, die im Zuge der Handlung immer verwirrter wird und immer abstrusere Pläne schmiedet. Aber auch die nicht weniger überzeugende Mavie Hörbiger als abgebrühte Edelprostituierte überrascht mit schwachem Selbstbild und eigenwilliger Sicht auf ihren Beruf („Ich mag das Hässliche; ich bin mir selbst nicht so wichtig“). Die Charaktere geben sich lange Zeit verschlossen, bevor sie zur Tat drängen. Und dieser Film zeigt wenig her, doch er öffnet Räume. Nicht zuletzt auch im Zuschauer. Und am Ende sehen wir das Wiener Häusermeer, die eine Hälfte des Bildes erscheint real, die andere spiegelt sich in einer Hochhausfassade und wirkt unwirklich verzerrt. Die Welt kann ein Gräuel sein, doch das Bild von ihr entsteht im Auge des Betrachters. (Text-Stand: 3.3.2017)