Spuren des Bösen – Begierde

Ferch, Koschitz, Mavie Hörbiger, Ambrosch, Prochaska. Im Auge des Betrachters

Foto: ZDF / Pedro Domenigg
Foto Rainer Tittelbach

In „Begierde“, dem sechsten Film der Reihe „Spuren des Bösen“, muss sich Heino Ferchs Brock mit dem Krankheitsbild Schizophrenie und den Varianten der menschlichen Lust auseinandersetzen. Der nicht mehr praktizierende Psychiater unterstützt diesmal nicht die Polizei bei ihrer Arbeit. Selten war das Personal so überschaubar, die Handlung so reduziert und die Bildsprache so stark auf das Wesentliche konzentriert. Nicht die Krimidramaturgie übernimmt die Führung, sondern die Bilder. Die Dunkelheit minimiert den sichtbaren Raum. Die Geschichte kommt aus der Wiener Nacht, dem Dunkel kranker Seelen. So entsteht ein faszinierendes Kammerspiel, bei dem der Zuschauer das Angedeutete häufig selbst zuende denken darf. Ein Drehbuch ohne Schlacke, das Spiel von Ferch, Koschitz & Hörbiger ganz im Prochaska-Modus & der Meister selbst perfektioniert hier seinen reduzierten Erzählstil.

Die Nacht liegt über Wien. Eine blonde Frau (Mavie Hörbiger) stöhnt lustvoll auf einem gesichtslosen Mann. Sie schminkt sich und verlässt das Haus. Auf der Straße verfolgt sie ein anderer Mann (Benjamin Sadler). Sie küssen sich, dann stößt er die Blondine vor ein Auto. Schnitt. „Unsere Augen zeigen, was wir fühlen – unbewusst. Ein angenehmer Reiz erweitert die Pupille um 25 Prozent“, doziert Richard Brock (Heino Ferch) in einer Vorlesung. Schnitt auf eine gut aussehende Frau, Clara Rink (Julia Koschitz), die den nicht mehr praktizierenden Psychiater um seine Einschätzung in einem persönlichen Fall bittet: Ihr Mann Johannes scheint wie sein Vater schizophren zu werden. Die Krankheit brach innerhalb von Wochen aus. Brock schaut sich den „Patienten“ an und gibt die dringende Empfehlung, ihn einweisen zu lassen. Mithilfe ihres Hausarztes (Harald Schrott) versucht es Clara Rink wenig später. Vergeblich. Das Ergebnis: eine Selbstverletzung, ein Messerangriff und die Flucht des psychisch Kranken. Brock hat unterdessen Kontakt mit der blonden Frau aufgenommen, die von Johannes attackiert wurde. Weil er ihr, einem Luxus-Callgirl, zu Hilfe eilt und dabei ein tragisches Unglück verursacht, bekommt er die ganze Härte der Justiz zu spüren.

Spuren des Bösen – BegierdeFoto: ZDF / Petro Domenigg
Bi-polar? Die Spiegelung von Julia Koschitz ist in diesem Foto wohl eher ein Zufall. Ihre Clara Rink ist – so viel darf verraten werden – zwar reichlich durcheinander, aber keine gespaltene Persönlichkeit. Und in dieser Situation hat eher Brock ein Problem.

Im sechsten Film aus der Reihe „Spuren des Bösen“ muss sich der psychologisch geschulte Held mit dem Krankheitsbild der Schizophrenie, aber auch den Varianten der menschlichen Lust auseinandersetzen. Die ersten Szenen von „Begierde“ verweisen bereits auf die zentralen „Themen“ des Films. Da ist das schizophrene Verhalten des Kranken, der zärtliche Kuss, dann der Stoß, eine potenzielle Tötungsabsicht. Da ist das Referat über das menschliche Begehren, das sich zwar physiologisch messen lässt, den Verstand aber völlig ausschaltet und deshalb nur bedingt erklärbar ist. Brock selbst scheint über den Dingen des profanen Trieb- und Liebesleben zu stehen. „Ich warte“, sagt er, „dass eine kommt, die mich will und umgekehrt“. Seinen Aufgaben nähert er sich mit stoischer Ruhe und konzentriertem Blick. In Brocks Kopf dagegen rattert es. Die „Fälle“ lassen ihm keine Ruhe. Er brütet ständig, aber spricht nur selten etwas aus. Heino Ferch leiht diesem Mann sein markantes Gesicht – und es ist die beste Rolle, die Ferch je gespielt hat, ein Glücksfall für ihn, für die Filme, für die Zuschauer. Und „Begierde“ ist eine besondere Episode dieser Ausnahme-Reihe, die seit 2011 als Koproduktion von ORF und ZDF besteht. Kein Krimi-Ermittlungsfall: Der Psychologe unterstützt diesmal nicht die Polizei bei ihrer Arbeit. Und selten war das Personal so überschaubar, die Handlung, die Schauplätze so reduziert und die Bildsprache so stark aufs Wesentliche konzentriert.

Spuren des Bösen – BegierdeFoto: ZDF / Pedro Domenigg
Schizophrenie – der Anfang vom Ende? Rink (Benjamin Sadler) verletzt zunächst sich, dann bedroht er bis aufs Messer den Hausarzt Peter Bode (Harald Schrott). Julia Koschitz

Nicht die herkömmliche Krimidramaturgie, nicht die vorgestanzten Handlungsmuster übernehmen die Führung in diesem Film, sondern mehr noch als in den bisherigen Episoden von „Spuren des Bösen“ die Bilder. Die Menschen und die Situationen schälen sich häufig aus dem Schwarz der Nacht oder einer düsteren Stimmung heraus. Die Dunkelheit minimiert den sichtbaren Raum. In einigen Szenen wird die Umgebung stark stilisiert, bekommt geradezu etwas Schemenhaftes; es sind reale Räume, aber die Kamera macht sie abstrakt. Mit dieser Modifizierung der normalen raumzeitlichen Realitätsdarstellung nähern sich der Ausnahme-Regisseur Andreas Prochaska („Das finstere Tal“), der alle Episoden der Reihe nach den Büchern von Grimme-Preisträger Martin Ambrosch („Tatort – Angezählt“) inszeniert hat, und sein Kameramann David Slama („Unsere Mütter, unsere Väter“) der Wahrnehmung eines Schizophrenen an, gleichsam aber verschonen sie den Zuschauer von der Zeichenwelt des banalen Alltags. So kann sich dieser ganz auf das konzentrieren, was er sieht. Dieses Bildkonzept mit seinen Freiräumen und die Zeit, die der Film sich nimmt und dem Betrachter (zum Nachdenken) gibt, beteiligt diesen am Erzählen der Geschichte. Erst im Wahrnehmungs-Prozess entsteht das, was man „Spannung“ nennt, was bei Prochaska aber kein blindes sich Reizen aussetzen bedeutet, sondern ein Stück weit die Aktivität des Zuschauers erfordert.

Spuren des Bösen – BegierdeFoto: ZDF / Pedro Domenigg
Wer klopft denn da an Eva Fallers Tür. Gleich klebt Blut am Fenster. Mavie Hörbiger in „Spuren des Bösen – Begierde“ (ZDF/ORF, 2017)

Lange Zeit tappt der Betrachter wortwörtlich im Dunkeln. Natürlich hat man Ahnungen, Vermutungen über das Sichtbare hinaus, aber dieses Verweilen im Käfig einer Krankheit, dieses Kammerspielhafte, eine Inszenierung, die alles konsequent entfernt, was dieses Drama um eine schreckliche Krankheit und um den unbändigen Sexualtrieb nicht weiterbringt, ist so faszinierend, dass in „Begierde“ für den Sehenden der Weg lange Zeit zum vornehmlichen Ziel wird. Und da der Krimi-Aspekt nicht im Vordergrund steht, wird die Geschichte, werden die Wege der Menschen über die 90 Minuten hinaus weitergehen – und damit auch die Beunruhigung darüber, auf was für verwegene Gedanken Menschen kommen können. Zum Beispiel die von Julia Koschitz einmal mehr sehr überzeugend (ganz im Prochaska-Stil: klar, konzentriert, kühl) gespielte verzweifelte Ehefrau, die im Zuge der Handlung immer verwirrter wird und immer abstrusere Pläne schmiedet. Aber auch die nicht weniger überzeugende Mavie Hörbiger als abgebrühte Edelprostituierte überrascht mit schwachem Selbstbild und eigenwilliger Sicht auf ihren Beruf („Ich mag das Hässliche; ich bin mir selbst nicht so wichtig“). Die Charaktere geben sich lange Zeit verschlossen, bevor sie zur Tat drängen. Und dieser Film zeigt wenig her, doch er öffnet Räume. Nicht zuletzt auch im Zuschauer. Und am Ende sehen wir das Wiener Häusermeer, die eine Hälfte des Bildes erscheint real, die andere spiegelt sich in einer Hochhausfassade und wirkt unwirklich verzerrt. Die Welt kann ein Gräuel sein, doch das Bild von ihr entsteht im Auge des Betrachters. (Text-Stand: 3.3.2017)

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Reihe

ZDF

Mit Heino Ferch, Julia Koschitz, Mavie Hörbiger, Benjamin Sadler, Harald Schrott, Matthias Hack, Sabrina Reiter, Gerhard Liebmann

Kamera: David Slama

Szenenbild: Verena Wagner

Schnitt: Daniel Prochaska

Musik: Matthias Weber

Produktionsfirma: Aichholzer Filmproduktion

Drehbuch: Martin Ambrosch

Regie: Andreas Prochaska

Quote: 5,18 Mio. Zuschauer (15,4% MA)

EA: 06.03.2017 20:15 Uhr | ZDF

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