Eine Sage, ein Filmprojekt und fünf Vermisste
Land unter im Spreewald – und Kommissar Krüger muss sich gleich mit zwei Fällen auseinandersetzen. Der eine wurde längst zu den Akten gelegt. Doch eine aktuelle Vermissung spült ihn wieder an die Oberfläche. Vor 15 Jahren sind zwei Frauen spurlos verschwunden. Ihre Liebe zueinander war damals ein Schock für das kleine Lübbenau, vor allem für ihre Familien. Keine Leichen, kaum Verdachtsmomente gegen die Ehemänner, also ging man davon aus, dass die Frauen gemeinsam das Weite gesucht haben. Zweifel blieben: Lässt eine Mutter sein Kind so einfach ohne ein Wort zurück? Drei Filmstudenten, die im Spreewald einen semidokumentarischen Film über den Nix, ein sagenhaftes Wasserwesen, machen wollten, sind nun auch verschwunden. Wollten sie es zu genau wissen? Ihr Interesse an dem einst verschwundenen Liebespaar stieß jedenfalls bei einigen Dorfbewohnern auf Ablehnung. Wahnwitzig auch die Arbeitshypothese der Filmemacher: Die Bauern haben dem Nix durch Trockenlegung das Moor genommen, und der Wassergeist habe sich dafür die beiden Frauen geholt. Alles nur Film, Fake, Inszenierung, um wahrgenommen zu werden, ist sich Kollege Fichte sicher. Krüger sieht das anders: „Die Dämonen kriechen aus ihren Löchern.“
Foto: ZDF / Oliver Vaccaro
Ein Film im Film legt dem Kommissar eine Fährte
Die gegenseitige Durchdringung der Zeiten, das Spiel mit Vergangenem, das sich in die Gegenwart einschreibt, ist ein Hauptkennzeichen der „Spreewaldkrimis“ im ZDF. In „Die Sturmnacht“ verschwimmen nun im herbstlichen Dauernass die Realitätsebenen noch offensichtlicher und auch die Genreausrichtung, bisher Krimi mit hohem Drama-Anteil, wird in dem Film von Christoph Stark durch die mythische Erzählung vom Nix ein Stück weit in Richtung Gruselfilm variiert. Ein Hauch „The Blair Witch Project“ weht durch das Land der Fliese und schaurigen Sumpflandschaften, der sorbischen Sagen und bäurischen Überlebenskämpfe. Und zu dem Verzicht des linearen Erzählens hat Thomas Kirchner, der Autor aller „Spreewaldkrimis“, für den achten Film der Ausnahmereihe durch eine Film-im-Film-Ebene die Handlung noch mehr verpuzzelt als bisher. Die Studenten sind verschwunden. Zurück geblieben ist ihr Laptop. Es sieht so aus, als ob die Drei der Polizei das Filmmaterial bewusst zuspielen wollten. In der Folgezeit wird der Zuschauer zunächst weniger Zeuge von Ermittlungen. Denn noch gibt es nicht viel zu ermitteln. Erst als sich aus den Filmsequenzen eine Fährte ergibt, gehen Krüger und sein unwilliger Kollege Fichte dieser Spur nach.
Foto: ZDF / Oliver Vaccaro
Sich assoziativ in den Handlungsfluss begeben
Bis dahin vermischen sich die Gegenwart der Kommissare mit Szenen, in denen die Studenten und ihre Beziehungsscharmützel zu sehen sind, mit schwarzweißen dokumentarischen Interview-Schnipseln und zunehmend auch mit Sequenzen, die offenbar zum Nix-Film gehören, der gleichsam mit mehreren Realitätsebenen und Brechungen arbeitet. Ob die zunehmende Verunsicherung, die sich im Team breit macht, von Anfang an „real“ oder als Material für das „heiße“ Jungfilmer-Ding teilweise inszeniert ist („Es geht doch längst nicht mehr um unseren Film. Ich habe Angst“), kann nicht immer eindeutig entschlüsselt werden. Für zusätzliche Irritation bei den Kommissaren sorgt eine ungeschnittene Szene, in der alle drei Studenten zu sehen sind. Wer hat hier die Kamera geführt? All das, dieses multimediale und multiperspektivische Spiel, macht den besonderen Reiz von „Die Sturmnacht“ aus, dem damit etwas gelingt, was wohl so gut wie jeder Film- und Fernseh(rezeptions)experte für die Primetime für unmöglich halten würde: zu komplex, zu kompliziert, zu ungewöhnlich für den Normalzuschauer. Aber genau diese Reaktionen gab es anfangs auch beim Sender, was das labyrinthische Erzählkonzept des „Spreewaldkrimis“ anging, bevor der Erfolg sowohl bei der Kritik als auch beim Publikum endlich den Startschuss für diese außergewöhnliche Reihe gab. Jetzt gehen Kirchner, Produzent Wolfgang Esser und Redakteur Pit Rampelt noch einen Schritt weiter. Und auch das wird funktionieren. Der Film fordert eine weniger diskursive Wahrnehmung, setzt stärker auf das assoziative Moment (ohne den Zuschauer einzulullen). So kommen sich Narration & Rezeption, Film & Zuschauer so nahe wie selten im Fernsehen.
Foto: ZDF / Oliver Vaccaro
Das Element Wasser im Film ist eine echte Diva
Das Wasser ist der heimliche Hauptdarsteller von „Die Sturmnacht“. Dazu ein paar nüchterne Fakten von Produzent Wolfgang Esser:„Vier Monate Recherchen und Genehmigungsverfahren; zwei Monate strategische Planung mit Institutionen, Verbänden und Spezialisten; drei Monate Vorbereitung, Schleusen koordinieren, Dämme errichten, korrigieren, überwachen; fünf Wochen Drehzeit, davon lediglich zwei Drehtage im „Überschwemmungsgebiet“; sechs Monate Sicherstellung und Begleitung eines geordneten Wasserrückzugs.“
Formvollendete Lektion in Sachen Wahrnehmung
Obwohl „Die Sturmnacht“ also der am wenigsten linear erzählte „Spreewaldkrimi“ ist, nimmt man den Film dennoch als sehr flüssig (erzählt) wahr – nicht nur, weil er quasi der „Wasser-Film“ (Esser) der Reihe ist. Dass er stärker nach dem lyrischen als dem narrativen Prinzip gebaut ist, zeigt sich bereits im Vorspann, der einige düstere Impressionen gibt und Schlüsselmomente der Geschichte vorwegnimmt. Der Film mit seinen Naturgewalten und den sichtbaren Folgen, den Wassermassen, den Sumpfwiesen, dem Schlamm (das Szenenbild ist beeindruckend), mit seinen geheimnisumwitterten Figuren, der Dunkelheit und seiner tiefen Tragik hat etwas von einer Ballade. Auffallend ist außerdem, dass Regisseur Christoph Stark („Die Frau aus dem Moor“) auf namhafte Gast-Schauspieler verzichtet. Auch das hat mit der Erzählstruktur zu tun. Diese Krimi-Mystery-Mär schwimmt sich frei vom Personalisierungs-Prinzip, das überall in den Medien, im Fernsehen oder auch Kino dominiert, und setzt dafür auf Bild-Präsenz (Kamera: Frank Blau) & Montage-Prinzip. Ein bekanntes Gesicht könnte die flächige, filigrane Narration allzu leicht aus dem Gleichgewicht bringen. Christian Redl dagegen stört dieses Gleichgewicht nicht. Der Charakterkopf ist eingeführt als der etwas andere Kommissar der Reihe, der nicht alltagsrealistisch, sondern eher ein wenig esoterisch ermittelt, und die Art und Weise seines entschleunigten, melancholischen Spiels machen seine Figur auch zu einer Art Ikone der Reihe. Und so ist am Ende „Die Sturmnacht“ wie jeder „Spreewaldkrimi“ ganz besonders eine Lektion in Sachen Wahrnehmung. Die Konventionen des Erzählfernsehens werden formvollendet gebrochen – und es entsteht eine Magie weniger aus der Abfolge vermeintlich magischer Situationen als durch die Magie des Mediums selbst.