Vor zehn Jahren hätte Kostja Ullmann die männliche Hauptrolle gespielt; der Film wäre fürs Kino entstanden und später bei ProSieben gelaufen. Aber die Zeiten haben sich geändert, und deshalb stellt sich die Frage, wer sich dieses romantische Drama über zwei junge Leute Mitte zwanzig wohl anschauen wird. Die einstige ProSieben-Kernzielgruppe (Zuschauer unter 30) sucht sich ihr Programm längst bei YouTube, Netflix und Amazon. Bleibt also das typische ARD-Publikum um die sechzig, das sich für eine Geschichte über die Generation „DSDS“ erwärmen soll: Sebastian (Tim Oliver Schultz), Sohn aus vermögendem Elternhaus, träumt von einer Karriere als Popstar. Bis dahin vertreibt er sich die Zeit, indem er sie totschlägt: abends im Club, nachts mit immer wieder anderen jungen Frauen, die er am nächsten Morgen mit Hinweis auf seine soeben verstorbene Oma zum Gehen nötigt. Als ihm tatsächlich der Durchbruch winkt, weil ihn ein Produzent (Max von Thun) bei einer Performance auf dem Clubklo beobachtet hat, schlägt das Schicksal unbarmherzig zu: Sebastian, der sich lieber Sebbe nennen lässt, läuft im Dunkeln gegen eine Stange und verliert auf der Stelle sein Augenlicht. Eine Ärztin (Sophie von Kessel) stellt fest, dass ein Blutgefäß im Gehirn geplatzt ist; die Blutung beeinträchtigt sein Sehzentrum. Sebbes Lebensglück ist buchstäblich mit einem Schlag dahin, denn alles, was ihm bislang wichtig war, hatte mit Äußerlichkeiten zu tun. Doch dann bekommt er eine zweite Chance: Erst entdeckt der junge Mann mit Hilfe von Pflegerin Mia (Paula Kalenberg), die ihm die Augen öffnet, dass es im Leben Wichtigeres gibt als Luxus, und dann beendet eine Operation seine Blindheit; aber prompt fällt er anschließend wieder in sein altes Leben zurück, in dem für jemanden wie Mia kein Platz ist.
Das Drehbuch des Autorentrios Alexander Dydyna, Peer Klehmet und Friederich Oetker basiert auf dem schwedischen Kinofilm „Ego“ (2013) von Lisa James Larsson. Die Umsetzung besorgte Mira Thiel, die bislang vor allem mit „Gut zu Vögeln“ (2015) auf sich aufmerksam gemacht hat; die Kinokomödie trug ihren derben Titel nicht zu Unrecht, die Charaktere bewegten sich entlang der üblichen Klischees. Das ist bei „Song für Mia“ nicht viel anders, hat hier jedoch Methode, denn die Geschichte lebt natürlich vom Kontrast zwischen der herzensguten Mia und dem eitlen Sebbe. Die zwar nicht ausgesprochene, aber selbstredend vermittelte „Kleiner Prinz“-Botschaft, laut der man nur mit dem Herzen gut sieht, ist auch nicht gerade originell. Allerdings zieht Thiel ihr Ding fast schon bewundernswert konsequent durch. Tim Oliver Schultz ist durch die Grimme-preisgekrönte Vox-Serie „Club der roten Bänder“ zum Star geworden, und so zelebriert Thiel ihn auch. Die weibliche Zielgruppe wird mit Freude zur Kenntnis nehmen, dass es in einem deutschen Fernsehfilm schon lange nicht mehr so viele Duschszenen mit einem männlichen Hauptdarsteller gegeben hat. Außerhalb des Badezimmers ergeben sich ebenfalls viele Gelegenheiten, um den gut trainierten Oberkörper des Hauptdarstellers zu zeigen; gern auch mal in Zeitlupe.
Auch sonst setzt Thiel sehr viel auf Oberfläche, aber dieser Stil ist Teil der Geschichte wie auch der Botschaft. Nach dem Unfall ändern sich Tempo und Bildgestaltung deutlich. Entsprechend wichtig ist die Kameraarbeit. Stephan Burchardt war für die Regisseurin neben „Gut zu Vögeln“ schon bei den Spielszenen des Dokudramas „Der Traum von Olympia – Die Nazi-Spiele von 1936“ (2016) dabei und hat „Song für Mia“ einen Look gegeben, der auch eines Kinofilms würdig wäre. Während er im Büro des Musikproduzenten und der Ärztin mit Lichtinseln arbeitet, sind die Aufnahmen in Sebbes Wohnung auch dramaturgisch wichtig, denn sie stehen für sein bisheriges Leben. Burchardts Licht wirkt, als habe er fünfzig verschiedene Grauschattierungen finden wollen. Mias Heim ist dagegen hell, freundlich und ein bisschen chaotisch, und natürlich ist auch das klischeehaft. Für die Inszenierung der Clubszenen, erneut gern durch die eine oder andere Zeitlupe überhöht, gilt das gleiche, doch diese Bilder dienen ausnahmslos dem Zweck, die Fallhöhe zu vergrößern: Weil Sebbe bislang nur der Anschein wichtig war, hat er nach dem Verlust des Sehvermögens gar nichts mehr; bis auf die Musik. Mia macht ihm klar, dass Texte von Herzen kommen müssen, wenn sie berühren sollen, aber selbstverständlich vergisst er das wieder.
Es fiele also nicht schwer, Ansatzpunkte für Kritik zu finden, zumal der Film stellenweise kräftig kitschig ist: Überm Ferienhaus, in dem sich Sebbe und Mia während eines spontanen Kurzurlaubs näher kommen, wölbt sich ein Regenbogen, und die Geschichte, die Sebbe bei einem Radiointerview über seinen verstorbenen Bruder erzählt, dient allein dem Zweck, Mia und das Publikum zu Tränen zu rühren. Mitunter hakt es auch mal: Der Produzent freut sich, dass endlich jemand auf Deutsch über seine Gefühle singt; als habe es die emotionalen Pop-Schlager von Tim Bendzko, Max Giesinger oder Mark Forster nie gegeben. Anlass für die Freude des Mannes ist ein von Mia heimlich gefilmtes und ins Netz gestelltes romantisches Video („Der süßeste Blinde ever“), in dem Sebbe am Lagerfeuer zur Gitarre das Lied singt, an dessen Text sie als Muse in einer schön geschnittenen Sequenz beteiligt war. Das Video entwickelt sich zum Internet-Hit, der junge Mann wird endlich Popstar, wieder auf Englisch, und kommt erst zur Besinnung, als ihm das Schicksal einen weiteren Denkzettel verpasst.
Dass der Film trotz aller Einwände Spaß macht, liegt in erster Linie an den beiden Hauptdarstellern. Paula Kalenberg hat nicht viel Mühe, sich als Gegenentwurf zum verbitterten Sebbe zu profilieren, macht das jedoch sehr natürlich und sympathisch; außerdem setzt sie mit scheinbar spielerischer Leichtigkeit die komischen Akzente. Schultz wiederum ist perfekt als Hedonist ohne Tiefgang, vermittelt aber auch Sebbes Sinneswandel vom Lackaffen zum Romantiker glaubwürdig. Er hat schon mit dem neunzigminütigen ZDF-Märchen „Die weiße Schlange“ (2015) gezeigt, dass er einen Film tragen kann. Singen kann er ebenfalls, wie er in „Song für Mia“ beweist, und das gar nicht schlecht. Das Titellied zielt mitten ins Herz, aber auch sein englischer Song hat Ohrwurmqualität. Die Musik spielt naturgemäß ohnehin eine große Rolle. „Es braucht Zeit“ stammt aus der Feder von Jens Schneider, der unter anderem für Joris und Max Giesinger komponiert. Die Filmmusik enthält noch viele weitere Songs, die eigens für den Film geschrieben worden sind; Komponisten sind neben Schneider auch Michael Herberger, seit zwanzig Jahren der Produzent von Xavier Naidoo, sowie Jules Kalmbacher, der schon für Cro, Imagine Dragons und Mark Forster gearbeitet hat.