Hamburg hat ihn erdrückt, hat ihm die letzte Energie gefressen, jetzt im friesischen Katenbüll hofft Sörensen (Bjarne Mädel) auf Linderung seiner Qualen. Der Hauptkommissar leidet unter Angststörungen. „Manchmal passiert tagelang gar nichts“, weiß seine neue Kollegin Jennifer Holstenbeck (Katrin Wichmann) über den Arbeitsalltag zu berichten. Das ist Musik in Sörensens Ohren. Denn der will einfach nur seine Ruhe. Doch kaum ist er angekommen, da vermeldet der eifrige Kriminalkommissar-Anwärter Malte Schuster (Leo Meier): „Der Hinrichs sitzt tot in seinem Stall“. Hinrichs war der Bürgermeister im Ort – und jetzt ist er so tot wie die ganze Umgebung, drei Einschüsse, Selbstmord ausgeschlossen. Ehefrau Hilda (Anne Ratte-Polle), immer den Flachmann in Reichweite, könnte ein Motiv haben, denn ihr Mann wollte sich scheiden lassen – und die Hinrichtungsschüsse waren ohnedies höchst unprofessionell. Da Hinrichs einer der sogenannten „drei Musketiere“ war, die Anfang der 90er Jahre Katenbüll aufmischen wollten, schaut Sörensen mal bei den beiden anderen vorbei: bei Fleischfabrikant Jens Schäffler (Peter Kurth) und bei Frieder Marek (Matthias Brandt), dem geschassten Kurdirektor. Der eine ein Großkotz, der andere eine arme Socke, die dem Kommissar zur Begrüßung zitternd eine Knarre an den Kopf hält. Dem Fast-Veganer ist dieser Typ zwar sympathischer als der Fleischbaron – doch was hilft’s, wenn der Mann abdrückt.
Wirkt dieser Stadtflüchtige auch ziemlich kaputt – wenn es gilt, einer Schweinerei die Stirn zu bieten, dann ist mit diesem „KHK“ zu rechnen. Und der Kuhstallmord in dem ARD-Fernsehfilm „Sörensen hat Angst“ ist nur der Anfang einer Vielzahl von grausigen Ereignissen, mit denen es das etwas andere Krimi-Dreigestirn im Verlaufe der 90 Minuten zu tun bekommt. Dabei beginnt alles recht hoffnungsvoll: der Mann mit dem „Schlag“ auf der Fahrt vom lärmenden Hamburg ins beschauliche Friesland, ein letztes Rattern eines Güterzugs, noch einmal schnell am Straßenrand gekotzt – und das neue Leben kann beginnen. Doch irgendwie hat er sich das alles besser vorgestellt: ekelhaft dieses Dorf, in dem alle vom Fleisch leben, weil die meisten in einer Fabrik mit dem aberwitzigen Firmennamen „Fleischeslust“ arbeiten! Schwer gewöhnungsbedürftig sind auch die Bewohner. Schnaps ist denen ihr Wasser. Und dann dieser neugierige Nachbar („Ohne Frau? Oder ohne Mann … Ohne Sachen?“). Selbst das Wetter scheint in Katenbüll nicht besser zu sein als in Hamburg. Ne, ne, ne, Sörensen merkt bald, das Gelbe vom Ei ist das hier auch nicht, aber „irgendwo muss man ja sein“. Und so scheint er sich – trotz der moralischen Düsternis in dieser Pampa – nach und nach zu versöhnen mit Land & Leuten. Besonders mit seiner Kollegin Jenny versteht er sich zunehmend besser. Auch die hat ihr Päckchen zu tragen: schwanger mit 17, alleinerziehend und jetzt macht die Tochter ihr das auch noch nach. Aber sie und Sörensen harmonieren gut. Sie schimpft und raucht bei Stress, ihn übermannen gelegentlich Panik-Attacken. Auch ihre Sicht auf das Leben ist ähnlich. Glück kann etwas ganz Kleines sein.
Als „bäriger“, arbeitsscheuer Polizeiobermeister in der äußerst beliebten ARD-Serie „Mord mit Aussicht“ (2008-14) und als Heiko „Schotty“ Schotte in der geradezu kultisch verehrten und mit Preisen überhäuften NDR-Serie „Der Tatortreiniger“ (2011-18) schrieb Bjarne Mädel bereits jüngste Fernsehgeschichte. Aber auch in ernste(re)n Rollen wie in „24 Wochen“ (2016), „Es war einmal Indianerland“ (2018) oder „25 km/h“ (2018) weiß der 52-Jährige zu überzeugen. Jetzt hat sich der Schauspieler auf Neuland begeben: In „Sörensen hat Angst“ spielt er nicht nur die Hauptrolle, sondern hat auch die Regie übernommen. Das war zunächst nicht geplant. Doch Autor Sven Stricker, bislang vor allem im Hörspiel erfolgreich, und er, befürchteten, „dass der Film anders werden könnte“, so Mädel, „als wir ihn in unseren Köpfen oder zumindest in den Bäuchen hatten“. Es war von Anfang an ein Herzensprojekt, „ein kleines Dankeschön“ des Autors, dessen erster Roman „Schlecht aufgelegt“ durch Mädels Unterstützung bei Rowohlt landete. Und so schrieb er die Rolle passgenau für seinen Freund und dessen typische Humortonlage. Dazu ein bisschen Düsternis und Melancholie Marke Mankell, eine Prise Humor à la Sven Regener – da verspürte Mädel bald eine Riesenlust, den Film selbst zu besetzen und sich Leute wie Kameramann Kristian Leschner („How to Sell Drugs online (fast)“) oder Editor Benjamin Ikes („Tatortreiniger“) zu holen, die er bei anderen Projekten kennen- und schätzen gelernt hatte. Und er engagierte mit Matthias Brandt, Peter Kurth und Anne Ratte-Polle Kollegen aus der ersten Drama-Reihe für kleine, feine Rollen, und er entschied sich für die Besetzung der weiblichen Hauptrolle für Katrin Wichmann, ein Knaller im schrägen „Tatort – Borowski und das Glück der Anderen“, jetzt bildet sie – gemeinsam mit Mädel – ein Pärchen zum Niederknien: „Sie macht sich weder interessant, noch versucht sie, witzig zu sein“, sagt Wichmann. Das gilt auch für Sörensen – und zeigt, wie eng hier die Charakterbilder mit der Philosophie der Geschichte zusammenhängen.
„Die Herausforderung bei diesem Projekt bestand für mich unter anderem darin, Komik und Tragik in Balance zu halten. Auf der einen Seite dem Humor und der Angststörung gerecht zu werden, auf der anderen Seite diesen düsteren Ort einzufangen, an dem sich die schlimmsten Verbrechen abspielen, die man sich vorstellen kann. Es ist der sprichwörtliche Ritt auf der Rasierklinge gewesen. Bei missglückter Regie hätte der Film leicht entweder in ein schweres Drama oder in Richtung Schmunzelkrimi abrutschen können. Der Humor diente mir dazu, die Zuschauer in die Geschichte hineinzuziehen. Dann übernimmt aber die Härte des Kriminalfalls, und der Zuschauer begreift, wie Sörensen selbst, wo er gelandet ist … Wir sind oft nah dran an Sörensen und verzichten am Anfang einer Szene auf die klassische Eröffnungseinstellung. Häufig geraten die Zuschauer mit Sörensen in die Szene hinein, ohne sich vorher in der Umgebung orientieren zu können. Wir wollten außerdem einen komplett drohnenfreien Film machen.“ (Bjarne Mädel)
Selten gibt es TV-Produktionen, bei denen die Absichtserklärungen der Macher mit dem filmischen Endergebnis so deckungsgleich sind wie bei „Sörensen hat Angst“. Die Intentionen von Stricker & Mädel findet man in Wort, Bild und Handlung absolut umgesetzt. Eingelöst wird vor allem der Wunsch, Drama, Krimi und Komödie nicht wild durcheinanderzumischen, sondern den Zuschauer, der glaubt, er bekomme hier einen Schmunzelkrimi serviert, ein bisschen aufs Glatteis zu führen. Mag die Hinrichtung im Stall, kombiniert mit dem jungen Kollegen, der bei seiner ersten Leiche gar nicht hinschauen mag, oder mit der Ehefrau des Toten, die den wegen der Geräuschkulisse abgelenkten Kommissar bei der Befragung anherrscht („Ne, das Radio bleibt an; das Radio ist immer an“), noch an die Schrägheit von „Fargo“ oder die Genremixturen eines Holger Karsten Schmidt („Harter Brocken“, „Nord bei Nordwest“) erinnern, zieht die Geschichte bald sehr viel schrecklichere Kreise. Spätestens im Schlussdrittel erkennt die Oberkommissarin ihr Dorf, das sie für eine Stadt hält, nicht mehr wieder: „Was für ein Dreck. Sowas gab es hier noch nie.“ Auch die Angstzustände sind hier kein Wesenszug, der die Handlung nur aufheiternd vertieft wie in jenen Unterhaltungsfilmen („Pohlmann und die Zeit der Wünsche“, „Liebe ist unberechenbar“), in denen derzeit psychische Ängste en vogue sind. Und ebenso wenig sind sie hier Diversitätsalibi für die öffentlich-rechtlichen Sender. Vielmehr steht diese Störung gleichwertig neben dem Krimiplot.
Die große Ernsthaftigkeit hängt maßgeblich auch mit der Art und Weise zusammen, wie Stricker und Mädel „Sörensen hat Angst“ dramaturgisch und filmsprachlich erzählen. Das Grausame, das Unsägliche, das, wofür es keine Worte gibt, auch nicht (im Bild) zu zeigen, entspricht dem narrativen Konzept des Films. Mädel & Co wollten den dörflichen Horror offenbar nicht so leicht goutierbar machen und sich nicht einreihen in die serielle Krimi-Fabrikation, die Gräueltaten routiniert am Fließband liefert und ein konditioniertes Millionenpublikum unterhält. Dafür spricht vor allem auch, wie sich die schreckliche Geschichte inclusive dem unschönen Leiden des „Helden“ in der Filmsprache widerspiegelt.
Gleich in der ersten Einstellung schreit einen Sörensens Störung förmlich an: Man sieht das weit aufgerissene Augenpaar, hört ohrenbetäubenden Lärm und erfährt so hautnah, was sich im Kopf der Hauptfigur abspielt. Später gibt es Totalen wie im Kino. Auch filmsprachliche Gags: ein Deich, ein Rauschen, Sörensen in freudiger Erwartung – und dann statt Meer nur eine triste Ebene. Auch beim ersten Besuch in der Weißer-geht’s-nicht-Verwaltung der Firma Fleischeslust spielt die Wahrnehmung dem Kommissar üble Streiche: Ist das hier ein Bürogebäude oder eine Psychiatrie? fragt man sich als Zuschauer. Gelegentlich geht die Kamera auch schon mal in Schräglage oder schießt durch eine schmale Öffnung der Stalltür nach draußen. Wenn Räume überbrückt werden, dominiert oft eine atmosphärische, fast poetische Montage, während in Innenräumen die Charaktere im Zentrum stehen. Dann sind es oft originelle und zugleich sinnstiftende Einstellungen: der geschaffte Kommissar am Schreibtisch, vor ihm ein Kaktus, der noch geschaffter aussieht. Und auch das Referieren von Rechercheergebnissen, ein Manko vieler Krimis, geht hier „anders“ vonstatten: Es wird nicht alles sofort vom Kollegen kommentiert wie in vermeintlich realistischeren Krimis; so bleiben die Infos offen für den Zuschauer, der eigene Vermutungen anstellen kann. In der Szene im Schlussdrittel, in der Kommissar-Anwärter die schrecklichen Befunde zusammenfasst, schauen sich die Kollegen nicht mal an, und Sörensen stiert sinnierend vor sich hin.
Bjarne Mädel und Sven Stricker bevorzugen eine Dramaturgie der Pausen und der Zwischenräume, die dem Zuschauer manchmal Ruhemomente schenken, sehr viel öfter allerdings – verbunden mit der Knappheit der Sätze, der Schlichtheit der Sprache und kombiniert mit Wiederholungen – einen lakonischen Grundton erzeugen. Sörensen: „Kriegst Du die Tür auf?“ Jenny: „Das ist doch nicht legal.“ Sörensen: „Kriegst Du die Tür auf?“ Jenny: „Nein.“ Sörensen: „Aber ich.“ (knallt gegen die Tür) Jenny: „Hör mal…“ So hört sich verbale Lakonie an. In „Sörensen hat Angst“ gibt es auch immer wieder filmsprachliche Lakonie: Sörensen im Auto, milde lächelnd – eine Bäuerin zählt Geld – Kneipentisch mit Sörensen und Jenny, zu ihren Füßen der Hund Cord (den der Held von der Bäuerin zuvor gekauft hat); drei Einstellungen in zehn Sekunden. Die darauf folgende Schlussszene bringt diese norddeutsche Eigenart trockener Kommunikation ebenfalls wunderbar zum Ausdruck. Sie: „Gibt ja so ‘n Spruch: ‚Wo die Angst ist…“ Er: „…da geht’s lang.“ Sie: „Also?“ Er: „Kann ich auch erst mal hier anfangen.“ Sie: „Genau.“ Er: „Gut.“ Sie: „Gut.“ Sie trinken. Sie: „Bratkartoffeln?“ Er: „Gut.“ Sie: „Sind aber mit Speck.“ Er (nachdenklich): „Schmeckt ja sonst nicht.“ Wie so viele Szenen des Films eine großartige Miniatur, bei denen man die Gedanken, die Stimmungslagen der Figuren mitlesen kann. Die Sache mit dem Speck hat natürlich eine Vorgeschichte. Vielleicht spricht Mädel ja auch deshalb den letzten Satz des Films nicht mehr mit dem zufriedenen Unterton dieser launigen Schlussszene. Er erinnert sich plötzlich wieder daran, welche Kröten man hier in Katenbüll schlucken muss… Es gab lange keinen Fernsehfilm mehr, von dem man sich so sehr eine Fortsetzung wünschen würde!