25 Jahre war Bärbel Schmitz (Annette Frier) für ihre Familie da – für ihren Mann Lutz (Henning Baum), die beiden „Großen“ (Nico Liersch, Greta Geyer) und „Johnny“ (Charlie Schrein). Jetzt möchte sie andere Prioritäten setzen. Der Auslöser für den Sinneswandel ist ein Zettel, der ihr aus dem Kragen eines Hemdes fällt; ein Verlegenheitsgeburtstagsgeschenk für ihren Göttergatten, hergestellt in Bangladesch. „I need your help“, steht auf dem Zettelchen, „My family is poor and we have no money für food and medicine. Our fate is in your hand.“ Bärbels Bauch sagt ihr, dass sie helfen sollte, er sagt ihr aber auch, dass es nichts bringt, wenn sie ihren Mann mit in ihre Überlegungen einbezieht. Aber auch bei allen anderen stößt sie auf taube Ohren. Im zweiten Anlauf findet sie wenigstens in Noah (Matti Schmidt-Schaller), dem Mitar-beiter einer Hilfsorganisation, einen Verbündeten. Ein Briefwechsel, ein kleines Geldgeschenk, ein anrührendes Gedicht als Dankeschön und ein Video-Call mit dem Hilfesuchenden bestärken Bärbel darin, noch mehr für jenen Rani (Ruban Nadesapillai) tun zu wollen. Hinzu kommt der Satz, der ihr ausgerechnet ihre sonst oft so zynische Mutter (Jutta Speidel) auf den Weg gibt: „Wer einen Menschen rettet, rettet die ganze Welt.“
Foto: ZDF / Martin Rottenkolber
Selbstfindung und Helfersyndrom, zwei Hauptthemen im frauenaffinen Unterhaltungs-TV, einmal ganz anders. Indem der Erfahrungshorizont der Heldin um gesellschaftliche Fragen erweitert wird, erzählt „So weit kommt’s noch!“ mehr als die übliche Emanzipations-Geschichte, in der sich eine Ehefrau und Mutter aus einem beengenden Beziehungskorsett befreit. „Ist es sinnvoll, sich um einen einzelnen Menschen zu kümmern, wenn so viele Hilfe brauchen? Und wann entscheidet man und warum, ob man mit jemandem Mitleid hat?“ Solche Fragen zum Thema Nächstenliebe stellt die Hauptfigur sich und anderen. Sie weiß, dass sie nicht allen Menschen helfen kann. Und sie will auch nicht bloß „ein bisschen Schicksal spielen“, wie ihr eine Hilfsorganisationsmitarbeiterin unterstellt. Da „Helfen“ nicht nur moralische, sondern auch psychologische Gründe haben kann, liegt im Falle von Bärbel Schmitz allerdings die Vermutung nahe, dass ihre plötzliche Hilfsbereitschaft auch etwas mit ihrer Ehe, ihren Beziehungen, ihrem Alltag zu tun hat: ein Hemd als Geburtstagsgeschenk, na ja. Hinzu kommen drei Kinder, zwei schnöselig-arrogante Mittzwanziger und ein typischer postpubertierender Besserwisser. Aber auch ihre Cousine (Eva Verena Müller) oder der Lesekreis frustrieren sie. Kleiner Zettel, große Wirkung. Die Heldin spürt, dass ihr aktuelles Leben ihr nicht mehr genügt. Mit dem „Helfen“ könnte sie ihrem Leben neuen Sinn geben.
Der Österreicher Rupert Henning, Jahrgang 1967, hat sich hierzulande einen Namen gemacht mit sozialkritischen ORF-„Tatort“-Episoden wie „Schock“ (2017) oder „Krank“ (2020), überzeugte aber nicht minder als Drehbuchautor von (Tragi-) Komödien wie „Alles Schwindel“ (2013) mit Ursula Strauss oder „Alle Nadeln an der Tanne“ (2020), ein Fünf-Sterne-Film mit Anna Loos und Marcus Mittermeier.
Foto: ZDF / Martin Rottenkolber
Auch wenn einige Begriffe sicherlich bewusst aus der Flüchtlingsdebatte („Bleiberecht für alle“) übernommen wurden, allerdings in einen anderen Kontext gestellt werden (so bewirkt die Heldin zwischenzeitlich die „Abschiebung“ ihrer eigenen Familie), wird in dem Fernsehfilm von Rupert Henning die Migrationsfrage nicht tagespolitisch, sondern idealistisch-philosophisch verhandelt, von der Warte einer kleinen Frau aus – irgendwo zwischen blauäugig-naiv, sympathisch und wahrhaftig. Diese Frau fühlt, auch eine gewisse moralische Verantwortung, im Gegensatz zu all den anderen, die immer nur das Schlimmste annehmen und sofort rationale Gegenargumente für Bärbels Hilfspaket finden. Zumindest auf einen, den ebenso freundlichen wie unsicheren jungen Mann von der Hilfsorganisation, kann sie sich verlassen. Eine Umarmung führt allerdings prompt zu Missverständnissen. Das ist nur einer von mehreren überflüssigen Momenten aus der Mottenkiste des Genres. „Auf gar keinen Fall schenke ich meinem Mann Hemden zum Geburtstag“, sagt die Heldin und tut’s doch: ein weiteres dramaturgisches Klischee, das so alt ist wie die deutsche TV-Komödie. Dass die Tochter den Nachbarn mit dem Auto umfährt, ist nicht weniger überflüssig, ebenso wie Noahs Fremdschäm-Gebrabbel zum „menstruierenden“ weiblichen Körper (dass der Mittzwanziger unsicher ist und Wortfindungsprobleme hat, wird hinreichend demonstriert). Solche Details verwässern die eigentlichen Konflikte. Und so mäandert diese Dramedy phasenweise durch den Schmitz‘schen Alltag; das allerdings passt wiederum nicht schlecht zu dieser Figur, die – Annette Frier zum Trotz – gar nicht so selbstbewusst ist, wie man annehmen könnte.
Erschwert wird die Rezeption möglichweise noch dadurch, dass es für solche Was-wäre-wenn-Komödien-Geschichten (leider) kaum Vorbilder gibt und die Zuschauer somit – anders als beispielsweise bei Romantic Comedys – keine dramaturgischen Muster verinnerlicht haben, die ihnen den Weg weisen durch die 90 Filmminuten. Statt sich Erwartungen befriedigen zu lassen, kann man sich dafür bei „So weit kommt’s noch!“ immer wieder von der eigensinnigen Hauptfigur und einer eigenwilligen Geschichte überraschen lassen. Welchen Coup wird Bärbel Schmitz noch landen? Wie reagiert wohl der werte Gatte, der davon träumt, die Weltmeere zu umsegeln, auf ihre (Trans-)Aktionen? Lässt sich der Sehnsucht nach dem privaten Glück eine globalere Perspektive geben? Diese und weitere Fragen wirft die Geschichte auf. Dass sie nicht eindeutig beantwortet werden, ist neben Annette Frier (vielschichtig) und Henning Baum (einsilbig), deren Figuren sich nach knapp 70 Filmminuten einen beherzten Ehekrach vor Publikum liefern, sowie Jutta Speidel (wunderbar ironisch) eine der besonderen Qualitäten des Films. Soziale Not lässt sich nun einmal nicht so leicht lösen wie eine Ehekrise.