Der Vorspann ergänzt den Titel um den Zusatz „Ein Küstenkrimi“, als wolle das ZDF die Zuschauer beruhigen: Keine Sorge, ihr bekommt euren gewohnten Montagskrimi. Der Schauplatz ist allerdings eher zweitrangig, „So weit das Meer“ hätte mit einigen Änderungen auch anderswo gedreht werden können; selbst wenn es dann nicht die schönen Meerblicke von Kameramann Simon Schmejkal gegeben hätte. Entscheidender ist jedoch das Krimi-Versprechen: Der Handlungsauslöser ist zwar ein Verbrechen, aber der sehenswerte Film erzählt in erster Linie ein doppeltes Familiendrama.
Die Geschichte beginnt mit einer Haftentlassung. Nach und nach lässt das Autorenduo Paul J. Milbers und Sabine Radebold einfließen, warum Wolf Harms 15 Jahre im Gefängnis war: Er hat den Vergewaltiger seiner damals 16 Jahre alten Tochter Jette erschossen. Seither hat sich die Welt weitergedreht. Ehefrau Agnes (Imogen Kogge) hat sich von Harms entfremdet, und Jette (Katharina Schüttler) ist es schließlich gelungen, das schreckliche Erlebnis hinter sich zu lassen. Sie ist die einzige, die den Vater mit ehrlicher Herzlichkeit begrüßt. Jette ist mittlerweile verheiratet und hat einen Sohn, Nils (Junis Marlon), dem der alte Harms demonstrativ distanziert begegnet: Der Junge ist die Frucht des fatalen Ereignisses, jedenfalls glauben das alle; bis er von der Schwester seines vermeintlichen Erzeugers um einen Gefallen gebeten wird. Maren Carstens (Katharina Schlothauer) hat Leukämie, und da ihre Mutter (Suzanne von Borsody) als Knochenmarkspenderin nicht in frage kommt, bleibt als einziger Verwandter Nils. Das negative Ergebnis ist ein doppelter Schock für Harms: Er hat vor 15 Jahren einen Unschuldigen ermordet; und der wahre Täter läuft immer noch frei herum. Nun wandelt sich das Drama doch noch moderat zum Krimi, zumal Milbers und Radebold zwischendurch auf die obligate falsche Fährte locken, aber die Nachforschungen konfrontieren den Mann schließlich mit einem Dilemma, das die Existenz praktisch aller Beteiligten bedroht.
Foto: ZDF / Christine Schröder
Die Geschichte trägt Züge einer klassischen Tragödie und behandelt mit Schuld, Sühne und Vergebung große moralische Themen; schon allein deshalb führt die Bezeichnung „Krimi“ in die Irre. Außerdem verzichtet Regisseur Axel Barth, der zuletzt mit Schmejkal für die Degeto den Freitagszweiteiler „Der Ranger – Paradies Heimat“ gedreht hat, konsequent auf sämtliche entsprechenden Elemente: Die Musik beschränkt sich darauf, das Geschehen zu begleiten, anstatt in harmlosen Szenen Erwartungen zu schüren; vom fehlenden Cliffhanger, mit dem viele Filme fast zwanghaft beginnen, ganz zu schweigen. Es gibt gelegentliche Rückblenden, aber nicht im spannungssteigernden Krimistil. Zumindest zu Beginn nutzt Barth immerhin tatsächlich das Meer, wenn Harms am Ufer steht und sich seinen Erinnerungen hingibt.
„So weit das Meer“ ist daher vor allem ein Schauspielerfilm. Uwe Kockisch, äußerlich reglos, hat das nötige Charisma, um allein mit seiner Ausstrahlung anzudeuten, was sich hinter Harms’ Reserviertheit abspielt. Selbst nach verbüßter Haft hat ihn die Vergangenheit fest im Griff; das ändert sich auch nicht, als der Schwiegersohn dem Kapitän einen Job besorgt. Sinnbildlich für eine mögliche Zukunftsperspektive ist Harms’ heruntergekommenes altes Boot. Es ist zwar nicht überraschend, dass Buch und Regie die Restaurationsarbeiten nutzen, um den Großvater mit seinem Enkel zu versöhnen, aber berührend sind die wortkargen Szenen dennoch, zumal Kockisch dem jungen Kollegen den nötigen Raum lässt. Einmal stellt der Enkel seinem Großvater eine Frage, die sich im Grunde nicht beantworten lässt; wie Harms dennoch um eine Antwort ringt und schließlich betroffen schweigt, ist großes Schauspiel. Junis Marlon überzeugt auch in den schwierigen Dialogszenen, wenn Nils beispielsweise von seiner Mutter wissen will, was vielen Zuschauer ebenfalls durch den Kopf gehen wird: Warum hat sie damals nicht abgetrieben? Und natürlich steht der Junge auch für die unausgesprochene Botschaft, dass selbst aus einem abscheulichen Verbrechen etwas Gutes hervorgehen kann.
Nicht minder glaubwürdig ist Katharina Schüttler als junge Frau, der es nach Jahren endlich gelungen ist, sich nicht mehr als Opfer zu sehen, und die nun fürchten muss, dass die Nachforschungen des Vaters die vernarbten Wunden wieder aufreißen. Sehr komplex ist auch die Rolle von Suzanne von Borsody. In der Liste der Mitwirkenden wird sie an zweiter Stelle geführt, obwohl Schüttler die größeren Spielanteile hat. Trotzdem ist die Platzierung nachvollziehbar, und das nicht nur, weil Uta Carstens maßgeblichen Anteil an gleich mehreren Handlungswendungen hat. Die alleinstehende Frau ist die tragischste Figur der Geschichte, zumal sie nach ihrem Sohn auch ihre Tochter verlieren wird: Sie hat damals große Schuld auf sich geladen, die indirekt Harms’ Tat zur Folge hatte. Bei ihrem ersten Auftritt zeigt die Kamera die Frau vom Land aus betrachtet als winzige Gestalt am Ende eines langen Bootsstegs; ein treffendes Bild für ihre Einsamkeit.
Foto: ZDF / Christine Schröder
Dank der guten Arbeit mit den Schauspielern und der daraus resultierenden darstellerischen Intensität fallen einige Szenen umso negativer ins Gewicht, weil Barth die Intelligenz seiner Zuschauer unterschätzt; die Momente, in denen er einen Polizisten „auffällig unauffällig“ als Verdächtigen aufdrängt, wirken beinahe plump. Aus dem sehr schlüssigen Rahmen fallen auch einige Informationsdialoge. Einerseits ersparen Buch und Regie dem Publikum typische „Wie du weißt“-Gespräche, andererseits ist es ähnlich ungelenk, wenn Unbeteiligte diese Aufgabe übernehmen. Viel besser ist der Film, wenn er seine Botschaften subtil verpackt. Ein vermeintlich harmloser Satz genügt Kockisch, um zu vermitteln, wie fremd sich Harms nach der Rückkehr in seinem früheren Zuhause fühlt. Die getragene Musik und die gedeckten Farben tragen ihren Teil dazu bei, dass sich das entsprechende Unwohlsein prompt überträgt.