Als das ZDF im Sommer 2019 den Drehstart von „Sløborn“ mitteilte, war noch von einer „Katastrophenserie“ die Rede. Das Etikett weckt Erwartungen, die eine deutsche TV-Produktion im Grunde nicht erfüllen kann; im klassischen Katastrophenfilm werden Städte durch Erdbeben verwüstet und Küstenregionen von Tsunamis überrollt. Auf der beschaulichen deutschen Nordseeinsel (gedreht wurde auf Norderney), der die Serie ihren Titel verdankt, bricht dagegen nur ein Virus aus; und das auch erst in der zweiten Hälfte. Das ZDF hat das Genre-Etikett daher um einen wichtigen Zusatz ergänzt: „Sløborn“ wird nun als „Drama- und Katastrophenserie“ angekündigt. Tatsächlich spielt das Virus zunächst gar keine Rolle, weil Regisseur und Ideengeber Christian Alvart erst mal ganz andere Geschichten erzählt. Darin spielen derart viele Teenager mit, dass „Sløborn“ fast wie eine Jugendserie wirkt.
Foto: ZDF / Krzysztof Wiktor
Zentrale Figur ist die 15jährige Evelin (Emily Kusche), deren Dasein kräftig in Unordnung gerät: Ihre Eltern (Wotan Wilke Möhring, Annika Kuhl) wollen sich trennen, sie hat eine Beziehung mit dem Vertrauenslehrer (Marc Benjamin) und ist zu allem Überfluss auch noch schwanger. Mitschüler Hermann (Adrian Grünewald) ist das Opfer der Klasse und heimlich in Evelins beste Freundin Yvonne (Linda Stockfleth) verliebt. Das Mobbing nimmt ein Ende, als er Schulrowdy Fiete (Tim Bülow) und dessen Kumpane dabei filmt, wie sie ein gestrandetes Segelboot entern und die Wertsachen stehlen. Auf dem Smartphone des Mannes entdeckt Hermann ein furchtbares Vermächtnis: Das Schiff hat eine Seuche an Bord, die sogenannte Taubengrippe, eine aus Asien eingeschleppte Mutation der Vogelgrippe H5N1. Das Virus ist in fast allen Fällen tödlich, ein Gegenmittel gibt es nicht; und selbstredend sorgen der ahnungslose Fiete und seine Freunde dafür, dass es sich auf der Insel verbreitet.
Christian Alvart ist keiner jener Regisseure, die einst mit Kunstanspruch begonnen haben und heute im Fernseh-Mainstream Kompromisse schließen müssen; er hat mit „Antikörper“ (2005) und seinen internationalen Produktionen („Fall 39“, „Pandorum“, beide 2009) konsequentes Genrekino gedreht und ist dieser Linie auch mit den „Tatort“-Thrillern für Til Schweiger treu geblieben. Alvart weiß, wie man ein Publikum packt, und dass er auch Serie kann, hat er mit „Dogs of Berlin“ (2018, Netflix) bewiesen. „Sløborn“ kann diese hohen Erartungen allerdings zunächst nur bedingt erfüllen. Das liegt nicht allein daran, dass er sich sehr viel Zeit für die Einführung seiner Figuren nimmt (jede Folge dauert knapp fünfzig Minuten), sondern vor allem an zwei ausführlichen Nebensträngen, die zunächst kaum Bezug zur Haupthandlung haben: Ein Sozialarbeiter (Roland Møller), einst selbst kein Kind von Traurigkeit, will straffällig gewordene Jugendliche, darunter auch einige Intensivtäter, auf den rechten Weg zurückführen. Eine Verbindung zum Rest der Serie stellt sich erst ein, als ein Rädelsführer die Jugendlichen beschuldigt, sie hätten das Virus eingeschleppt, und ein aufgehetzter Mob kurzen Prozess mit ihnen machen will. Figuren und Gruppendynamik entsprechen den üblichen Klischees; einzig Aaron Hilmer hinterlässt als stiller Mörder einen bleibenden Eindruck.
Foto: ZDF / Krzysztof Wiktor
Ein zweiter Seitenstrang wirkt ebenfalls wie Beiwerk, ist jedoch äußerst amüsant, weil Alexander Scheer seine Rolle als verkokster neuer Stern am deutschen Literaturhimmel bis an die Grenze der Karikatur auskostet: Nikolai Wagner ist von einer etwas verhuscht wirkenden Buchhändlerin (Laura Tonke) zu einer Lesung eingeladen worden. Die Pfarrersgattin schwärmt wie ein Teenager für den zwar selbstverliebten, aber unter einer Schreibblockade leidenden und entsprechend zynischen Literaten und will ihm helfen, den Drogen zu entsagen, was jedoch bloß zur Folge hat, dass Wagner auf der Suche nach Stoff mehrfach in ganz erhebliche Mitleidenschaft gezogen wird; außerdem ist er völlig pleite und kann die Insel nicht verlassen. Das wiederum wird zum Glücksfall, denn die Ereignisse entpuppen sich als perfekter Stoff für einen neuen Roman.
Auch Emily Kusche macht ihre Sache als wichtigste Identifikationsfigur nicht nur auf dem Skateboard herausragend gut und ist längst mehr als nur ein vielversprechendes großes Talent. Sie ist schon 2019 in einem „Kroatien-Krimi“ („Der Mädchenmörder von Krac“) sehr positiv aufgefallen und hat bereits in Alvarts Thriller „Steig.Nicht.Aus!“ (2018) mitgewirkt, auch dort als Filmtochter von Möhring. Ein gewisser morbider Reiz liegt zudem in der Aktualität. Selbstverständlich konnte Alvart nicht ahnen, dass die Realität seine Geschichte überholen würde; umso verblüffender sind die vielen Parallelen zur Corona-Pandemie. Ähnlich interessant wie bei der Sky-Serie „8 Tage“ ist auch die Kombination der Genres Endzeit-Thriller und Familiendrama, zumal Alvart und seine Koautoren die erwachsenen Figuren deutlich differenzierter konzipiert haben als die jugendlichen Straftäter. Urs Rechn zum Beispiel verkörpert Hermanns Vater gleichermaßen faszinierend wie verstörend: Der brummige Inselpolizist Mikkel macht einen ganz sympathischen Eindruck, rastet aber immer wieder aus. Einmal prügelt er hemmungslos mit dem Gürtel auf seinen Sohn ein, der ihm ohnehin nicht Manns genug ist; später nimmt Hermann grausame Rache. Kräftig aus der Spur gerät auch Helena, als sie nach der Trennung von Richard in der Kneipe lasziv auf dem Tisch tanzt und anschließend den Schriftsteller vernascht.
Foto: ZDF / Krzysztof Wiktor
Gerade diese überraschenden Momente geben „Sløborn” jene Würze, die eine horizontal erzählte Serie braucht, um rund 400 Minuten lang zu fesseln. Anfangs sorgt allerdings allein die herausragend gute Musik (Christoph Schauer, Max Filges) für eine „Da kommt was auf uns zu“-Stimmung. Dieses „Was“ ist das führerlos übers Meer schießende Segelschiff, das in einer spektakulären Szene ein Motorboot zweiteilt. Richtig los geht’s im Grunde erst ab Folge sechs, wenn die Seuche tatsächlich ausbricht, und ab Folge sieben grassiert der pure Horror, nun wird die Serie zum Hochspannungs-Thriller. Die Ordnungskräfte verlieren komplett die Kontrolle, die Evakuierung der Insel erinnert eher an eine Deportation, in den Auffanglagern gibt es ein Massensterben, und Evelin hat nur noch ein Ziel: irgendwie überleben und ihre Brüder retten. Einige Filmfiguren bleiben auf der Strecke, allerdings nur zum Teil wegen des Virus’: Es kommt zum bewaffneten Widerstand, die eingesetzten Bundeswehrsoldaten haben einen Schießbefehl. Selbst wenn die Serie rechtzeitig fertig gewesen wäre, hätte das ZDF sie garantiert nicht während der Corona-Pandemie ausgestrahlt. Für die letzten 160 Minuten hat Alvart zudem einen eindrucksvollen Aufwand betrieben, jetzt erreicht „Sløborn” nicht nur optisch die Qualität großer Kinoproduktionen und kann sich ohne Weiteres mit Filmen wie „Outbreak“ oder „Contagion“ messen. Trotzdem ist es schade, dass der Regisseur anders als etwa die raffiniert konzipierte ZDF-Serie „Die verlorene Tochter“ (2020) die erzählerischen Möglichkeiten des Formats nicht nutzt, sondern einen Spielfilm in acht Teilen erzählt.