Ganz neu war die Idee nicht, als Kerstin Gier 2013 ihre Jugendbuchtrilogie „Silber“ veröffentlichte, schließlich hatte Christopher Nolan seinen Traumdieb Dom Cobb schon drei Jahre zuvor auf Reisen ins Unbewusste geschickt: „Inception“ handelt von einem Agenten, der in die Träume anderer Menschen eindringt, um sie zu beeinflussen oder um Informationen zu stehlen. Giers Romane erzählen von einer Handvoll Jugendlicher, die dank alter Aufzeichnungen ebenfalls in der Lage sind, die Träume ihrer Mitmenschen zu besuchen. Und mehr noch: Mit Hilfe eines Rituals wird wahr, was sie sich am sehnlichsten wünschen. Die 17jährige Liv Silber, buchstäblich in die Sache reingestolpert, stellt sich als einzige die Frage, wo der Haken ist. Tatsächlich hat jeder Wunschtraum seinen Preis: Die schlimmsten Alpträume des Quintetts werden ebenfalls Realität. Nur Liv kann den Fluch stoppen. Am Ende muss sie ihr eigenes Leben riskieren, um das ihrer kleinen Schwester Mia zu retten.
Foto: Amazon Studios / Prime Video
Sina Flammang und Regisseurin Helena Hufnagel (Koautor: Christian Ditter) haben den Auftakt zu Giers Trilogie klug adaptiert, einige Aspekte stärker in den Vordergrund gerückt und andere aus den späteren Büchern vorgezogen. Die größere Herausforderung dürfte jedoch die Umsetzung gewesen sein, schließlich trägt sich die Geschichte zu großen Teilen in den Träumen zu. Die entsprechenden Effekte sind von herausragender Qualität und erschaffen imposante Welten. Besonders faszinierend sind die Träume der kleinen Amy, der Schwester von Livs Schwarm Henry. Die nächtlichen Erlebnisse des Mädchens ereignen sich in der quietschrosa Bilderbuchwelt eines Puppenhauses, mit dem sie auch in der Wirklichkeit spielt. Als Henrys Alptraum wahr wird, verändert sich die Traumkulisse jedoch auf bedrohliche Weise.
Eindrucksvoll sind auch die Leistungen des Ensembles. Star des Films ist Jana McKinnon, die seit ihrer famosen Verkörperung von Christiane F. in der Amazon-Serie „Wir Kinder vom Bahnhof Zoo“ (2021) weit mehr als ein Geheimtipp ist; ähnlich gut war sie als Titeldarstellerin in einem „Tatort“ aus Frankfurt, „Luna frisst oder stirbt“ (2021). „Silber und das erste Buch der Träume“ spielt in London, Prime Video bietet auch die Originalversion an, in der die Einheimischen englisch und nur die Deutschen deutsch sprechen; als Tochter eines Australiers und einer Österreicherin ist McKinnon eine perfekte Besetzung für die zweisprachige Hauptrolle. Flammang hat die dazugehörige Rahmenhandlung – Livs Mutter (Nicolette Krebitz) ist mit ihren Töchtern zum neuen Lebensgefährten nach England gezogen – allerdings stark reduziert. Trotzdem spielt die sechsköpfige Patchwork-Familie eine wichtige Rolle, denn letztlich hat Liv das Abenteuer indirekt ihrem Stiefbruder Grayson (Théo Augier) zu verdanken, der ebenfalls zu den Träumern gehört. Ganz ausgezeichnet ist auch Riva Krymalowski als Mia. Die gebürtige Schweizerin war schon famos als Hauptdarstellerin von Caroline Links Familienfilm „Als Hitler das rosa Kaninchen stahl“ (2019); die Szenen mit den beiden Schwestern zeugen von großer Nähe.
Foto: Amazon Studios / Prime Video
Weil die Traumwelten erst digital in der Postproduktion entstanden sind, mussten die jungen Mitwirkenden ihre Fantasie spielen lassen; das machen sie ausnahmslos gut. Der Film lebt zwar längst nicht nur von den visuellen Einfällen, aber die sind brillant ausgedacht und technisch hochwertig umgesetzt. Liv hat seit dem Tod ihres Vaters vor fünf Jahren einen wiederkehrenden Alptraum, in dem sie unter einer geschlossenen Eisdecke gefangen ist. Mit diesen starken Bildern beginnt der Film. Sie sind ein fesselnder Vorgeschmack auf das, was noch kommen wird, und natürlich schließt sich schließlich der Kreis, wenn sich Liv am Ende beim dramatischen Finale in der Blutmondnacht ihrem Trauma stellen muss. Optisch mindestens genauso einrucksvoll ist der endlos lange Traumkorridor mit seinen unzähligen Türen, die sich nur öffnen, wenn die Traumreisenden im Besitz eines Gegenstands der Träumenden sind. Die Übergänge zwischen den Welten sind ebenfalls raffiniert gestaltet. Regie führte Helena Hufnagel, die mit Flammang bereits bei „Einmal bitte alles“ zusammengearbeitet hat; das sehenswerte und glaubwürdig authentisch gespielte Drama mit Luise Heyer über die „Generation Praktikum“ lief 2018 als „Filmdebüt im Ersten“. Mit Heyer und Frederick Lau hat Hufnagel zuletzt die muntere Kinokomödie „Generation beziehungsunfähig“ (2021) gedreht. Ob Amazon auch die beiden weiteren „Silber“-Romane verfilmen lässt, ist noch offen. (Text-Stand: 24.11.2023)