Es war Sommer: Ein 18-Jähriger erlebt seine erste große Liebe
Ein junger Mann macht sich Gedanken über das Leben, die Liebe und die Wahrnehmung der Zeit. „Eine einzige Minute kann alles bedeuten – einen flüchtigen Moment und eine ganze Ewigkeit. Wenn ein Unglück geschieht oder ein großes Glück dann vergeht die Zeit anders als sonst: sie rast, sie bleibt stehen, sie dehnt sich unendlich aus.“ Diese Erfahrung muss der 18jährige Christian (Jonas Nay) in diesem Spätsommer mehrfach machen: Mal sind es für ihn Momente großer sinnlicher Intensität, mal ist es wie ein tödlicher Schmerz, der sich in den gerade erst erwachten Körper brennt. Der Sohn eines Steinfischers bekommt im letzten Jahr vor dem Abitur eine neue Englischlehrerin. Und was für eine! Sie heißt Stella Petersen (Julia Koschitz), kommt ursprünglich aus der Gegend, hat aber lange in London gelebt und weil ihr Vater (Hermann Beyer) Pflege braucht, ist sie zurückgekehrt. Alle in dem kleinen Fischerdorf an der Ostsee haben einen Narren an ihr gefressen. Für Christian ist sie die erste große Liebe seines Lebens. Alles beginnt mit einem Ausflug auf eine einsame Insel. In der Schule geht Stella ihrem „Lieblingsschüler“ anfangs aus dem Weg. Es schert sie zwar wenig, was die Leute sagen, ihre Freundin (Henny Reents), der Kollege (Johannes Allmayer) oder der Schuldirektor (Alexander Held), aber ihre Anstellung würde sie schon gern behalten. Auch Christian bekommt Druck von außen – obwohl seine Eltern (Uwe Preuss & Nina Petri) Verständnis haben für die Gefühle ihres Jungen. „Ihr habt Gefallen aneinander, das sieht man“, sagt die Mutter. Gegen die Willenskraft ihres Sohnes hätten sie auch keine Chance. Und Stella ist ja nicht ewig seine Lehrerin. Doch dann passiert dieser Unfall am Ende eines Segelturns. Stella geht über Bord. Christian rettet sie. Und dann heißt es hoffen und bangen. Es sind nur drei Wochen, die diese Liebe bisher dauerte. Gefühlt eine Ewigkeit. Und was kommt jetzt?
Foto: ZDF / Hannes Hubach
Oliver Berbens Versuch, „das Lenzige“ zu definieren: das, was Lenz ausmacht und was Verfilmungen ins andere Medium übersetzen sollten:
„’Lenzig’ – das ist die vom klaren Licht durchleuchtete nordische Landschaft, mit kleinen Orten zwischen Himmel und Meer, in denen die Zeit stehengeblieben scheint. ‚Lenzig’ ist die stille, dramatische Atmosphäre, die sich in den Gesichtern und Gestalten spiegelt: Lenz’ Charaktere, mit wenigen Strichen fein gezeichnet, sind zeitlose ‚Menschen ihrer Zeit’, die ein Geheimnis und eine Unschuld bewahren. ‚Lenzig’ ist vor allem die starke Emotionalität, die die Erzählung ausmacht: Begehren und Sehnsucht, tiefe Verunsicherung, Trauer.“
Männliche Perspektive – und doch mehr als eine Projektion
„Schweigeminute“ (2008) ist die Adaption der gleichnamigen Novelle von Siegfried Lenz, die zu seinem Spätwerk gehört. Eine Miniatur über die Liebe und eine Abhandlung über das Schweigen, wodurch dem Leser und seiner Phantasie eine zentrale Aufgabe beim „Entschlüsseln“ der Geschichte zukommt. Lenz hält sich – wie gewohnt – mit Interpretationen zurück. Auch der Film von Thorsten M. Schmidt trifft diesen Wesenskern der Geschichte und er kommt mit ziemlich wenig äußerer Handlung aus, was dem Zauber dieser filmischen Erzählung keinen Abbruch tut. Im Gegenteil. Der Zuschauer wird weder zugetextet, noch bekommt er psychologische oder soziologische Nachhilfestunden geliefert. Die männliche Hauptfigur lässt die Zeit von der ersten Begegnung bis zum Unfall und den schweren Tagen danach für den Zuschauer quasi noch einmal an ihrem inneren Auge vorbeiziehen. Auch wenn die große Liebe keine Projektion des jungen Mannes ist, bestimmt er doch die Perspektive, aus der die Situationen erzählt sind. Die Frau bleibt so ein Stück weit rätselhaft und in ihrem Verhalten widersprüchlich, ohne dabei allerdings zum beliebten Populärmythos „Geheimnis Frau“ stilisiert zu werden. Ästhetisch ist das Besondere an dem Film „Schweigeminute“, dass er das Sujet Liebe nicht als schöne, nur telegene Fernsehillusion ZDF-„Herzkino“-like banal präsentiert, sondern vielmehr in einen philosophischen Diskurs verwandelt. Jonas Nay („Deutschland 83“) spricht für seine Figur Christian von der ersten großen Liebe als einem Selbstfindungsprozess auf dem Weg zum Erwachsenwerden. „Sie ist mit unglaublichem Glück aber oft auch mit Schmerz und Trauer verbunden“, so Nay. „Gleichzeitig ist gerade die romantisierte, völlig willenlose Hingabe daran das Einmalige.“
Foto: ZDF / Hannes Hubach
Soundtrack: The Chordettes („Mr. Sandman“), Dion and the Belmonts („Teenager in Love“), Paul Anka („Diana“), The Everly Brothers („Bird Song“), Bobby Darin („Beyond under the Sea“), Del Shannon („Runaway“)
Weil die Geschichte stimmt, sind viele Lesarten möglich
Wie Lenz dem Leser will auch Regisseur und Ko-Autor Schmidt dem Zuschauer nichts aufs Auge drücken. Gerade weil die Geschichte auf allen Ebenen stimmig wirkt, kann sich der Zuschauer das heraussuchen, was ihn besonders packt. So überzeugt die Handlung als einfach schöne und schön einfache universale Geschichte, wie man sie im Fernsehen nur (noch) selten zu sehen bekommt. Psychologisch lässt sich das Liebesverhältnis lesen als ein Aufbegehren gegen die gesellschaftlichen Konventionen: Der Abiturient ist jung, er hat die gesellschaftlichen Regeln noch nicht verinnerlicht; und die Lehrerin, die in London eine liberalere Welt kennengelernt hat, kann sich an diese gesellschaftlichen Zwänge, diese dörfliche Enge, einfach nicht gewöhnen. Auch „soziologisch“ steht die Geschichte auf historisch sicheren Füßen. Irgendwann um das Jahr 1960 – glaubt man der Optik und den für den Soundtrack ausgewählten Songs – dürfte dieser Film spielen. Damit fällt die Handlung in eine Zeit, in der das Melodram dank Douglas Sirk oder Vincente Minelli eine kurzzeitige Blüte im Hollywoodkino erlebte. Das Siegel „melodramatisch“ bedeutet für „Schweigeminute“ vor allem: Die Gesellschaft steht dem jungen Glück ablehnend gegenüber. Schmidt und seine Autoren André Georgi und Claudia Kratochvil taten allerdings gut daran, sich nicht auf die lustfeindliche Generation des Nachkriegsjahrzehnts einzuschießen, sondern die Geschichte bei den Liebenden zu belassen, die verhaftet sind in der Logik der Gefühle und der romantischen Selbsterkenntnis. Und so mancher im Dorf beäugt diese „verbotene“ Liebe sogar mit Wohlwollen. „Manchmal bist du wehrlos und es passiert einfach, und du weißt nicht, warum es passiert ist“, sagt einmal Christians Vater zu seiner Frau; der Junge belauscht das Gespräch und könnte sich durchaus in seiner Haltung bestätigt fühlen. Aber dieser zu früh erwachsen gewordene junge Mann braucht eigentlich keine Legitimierung durch die Außenwelt, er tut ohnehin immer nur das, was er als einer, der zum ersten Mal richtig liebt, tun muss.
Foto: ZDF / Hannes Hubach
Eine visuelle Sprache von Liebe, Erotik, Sex und Zeitgeist
Das Melodramatische besitzt in „Schweigeminute“ eher eine film(historisch)e Referenzspur und verbindet sich atmosphärisch mit der Fifties-Sixties-Ästhetik des Films. Daraus ergibt sich wie im klassischen Melo à la Sirk eine eigenständige Wahrnehmungsschicht. Das ist mehr als ein cooler, kalkulierter Look, das ist der liebevolle und präzise Blick auf die stimmige Ikonografie einer Nachkriegsepoche. Da ist auch wenig nostalgische Verklärung im Spiel, es wird vielmehr das kreative Bemühen erkennbar, über eine perfekte Vintage-Folie dieser universalen Geschichte auch zeitgeschichtlich und popkulturell eine stimmige Verortung zu geben. Und so ist dieser Film über die Liebe am Ende ein Film aus einem Guss. Auch weil bei Schmidt die Blicke das Sagen haben. Da ist Jonas Nay, der sparsam agierende Jungstar, der mit nur einem Gesichtsausdruck auszukommen scheint, dennoch alle psychologischen Nuancen trifft und dessen sensible Figuren die Zuschauer immer gern bereit sind zu adoptieren. Die Erzählung läuft über die Bilder. Und der Zauber vermittelt sich über die Charaktere und die Momente, in denen sie sich begegnen. Julia Koschitz kommt als Objekt des Begehrens eine besondere Rolle in diesem sinnlichen Spiel zu. Sie muss verführerische Reize aussenden. Mit ihrem klar konturierten Haarschnitt im Courrege-Stil passt die „aktuelle“ Koschitz ohne Probleme schon sehr gut ins Bild der Zeit, aus der Ikonen wie Juliette Greco, Audrey Hepburn oder Jean Seberg hervorgegangen sind. Also noch die „richtigen“ Kleider ausgesucht, das kleine Rote, das Weiße mit den roten Punkten oder die vorschnelle Sixties-Symmetrie, kombiniert mit einer very britishen Geschmacksverirrung. Dazu der Lidstrich der Zeit, passend für eine Frau, die weiß, was sie will, und die weiß, was ihr steht. Aber nicht nur Sex-Appeal, auch Sex spielt eine Rolle in dem Film. Julia Koschitz hat Erfahrung mit solchen Szenen. In keinem ihrer Filme sind die Übergänge zwischen Annäherung, Kuss & Sex „natürlicher“ und weniger „spekulativ“ für den Zuschauer als in diesem ZDF-Film. Denn nicht der Sex mit dieser „älteren“ Frau ist der besondere Kick für den jungen Mann. Eine innere Seelenverwandtschaft ist mindestens ebenso wichtig für das Band, das sich um die beiden webt. Auch wenn also Pop-Sentenzen wie „Er war gerade 18 Jahr“ oder „Es war Sommer“ durchaus zur Verfügung stünden – bei Lenz und in dieser vorzüglichen Verfilmung geht es um sehr viel mehr als um die hormonellen Wallungen eines Jünglings. (Text-Stand: 29.9.2016)