Kleiner Mann – was nun?! Man trifft sich immer zweimal. Das zweite Glück
Ein Mann wankt schwer verletzt durch die Nacht, eine Tasche voller Drogen im Arm. Doch jener Bernhard Strelitz (David Bennent) kommt nicht weit. Der unscheinbare stellvertretende Leiter eines Supermarkts will nicht immer nur Zuschauer sein im Leben, und so beschließt er, nachdem er Augenzeuge eines Drogendeals wurde, die heiße Ware selbst einzusacken. „Was kostet denn so ein Kilo Kokain?“, fragt er den Wirt seines Stammlokals. Diese Frage hätte er wohl besser gegoogelt. „Ich kann nicht ins Gefängnis“, fleht Strelitz seinen Verteidiger Friedrich Kronberg (Moritz Bleibtreu) an. Schon vor der U-Haft graut es ihm. Immer wird er übervorteilt. Oder einfach übersehen – doch ausgerechnet im Knast glotzen ihn nun alle an. Einer ganz besonders: ein Ladendieb, den Strelitz vor zwei Jahren der Polizei übergeben hatte. Und noch ein kleiner Mann, der es schwer hat mit den Kollegen und den Frauen. Der Programmierer Meyerbeck (Milan Peschel) hat seinen Nachbarn (Benno Fürmann) mit einem Baseballschläger malträtiert. Hat sich dieser schleimige Frauenhasser wirklich an Meyerbecks zweiter großer Liebe „vergriffen“? Hat er sie verletzt, wollte er sie womöglich vergewaltigen? Der IT-Experte behauptet, für ihn sei es Notwehr gewesen; er habe seine Liebste vor dem Unhold schützen müssen. Anwalt Kronberg kann den Sachverhalt nicht nachvollziehen; im Prozess ruft er dann einen Experten für den „Vorgang Liebe“ in den Zeugenstand.
Soundtrack: Robot Koch & Delhia de France („Hope“), Jennifer Rostock („Schlaflos“)
Miniaturen über die Einsamkeit. Zwei Menschenporträts. Zwei große Schauspieler
In diesen zwei von vier neuen Episoden der Serie „Schuld – nach Ferdinand von Schirach“ werden zwei Unschuldslämmer für kurze Zeit zum Wolf, der eine aus stiller Verzweiflung heraus, der andere von Wut gepackt und Fürsorge ergriffen. Es sind zwei großartige filmische Erzählungen über zwei Außenseiter, die auf sehr spezielle Art ihr Glück finden. Zwei Miniaturen über die Einsamkeit. Getragen von zwei außergewöhnlichen Hauptdarstellern: In „Der kleine Mann“ gibt es ein (durchaus auch augenzwinkerndes) Wiedersehen mit David Bennent, unvergesslich in seiner Rolle als Oskar Matzerath in Schlöndorffs „Blechtrommel“ (1979), und in „Lydia“ spielt Milan Peschel einen Liebestrunkenen in einer scheinbar abwegigen Beziehung mit tragikomischer Selbstverständlichkeit. Wenn die vom Schicksal gebeutelten Männer ihre Geschichten dem Anwalt erzählen, die dem Zuschauer als lange Rückblenden präsentiert werden, weiß man, dass das Zwischenergebnis wenig erfreulich ist, dennoch folgt man dem Erzählten mit großer Aufmerksamkeit, auch weil beim Zusehen Mitleid mitschwingt mit den Angeklagten. Mit einem schlechten Anwalt könnten Strelitz und Meyerbeck Jahre einsitzen. Aber Kronberg alias Ferdinand von Schirach, nach dessen Fällen seine Erzählungen entstanden sind, ist ein anderes Kaliber. Allerdings kann auch Glück ins juristische Spiel kommen. Oder der besagte Experte mit einem überraschenden Statement.
Eine 15-Jährige in einer prekären Lage. Ein Kronberg-Freund, der sich verabschiedet
Die beiden anderen Filme der dritten und leider letzten „Schuld“-Staffel besitzen ebenfalls Gemeinsamkeiten, allerdings ganz anderer Art. Hier ist es die Variation der Fall-Prozess-Struktur, die ins Auge fällt. Beide Geschichten besitzen mehrere Zeitebenen, und der von Moritz Bleibtreu gespielte Kronberg, tritt im Hier und Jetzt nicht als Anwalt auf, sondern in „Der Freund“ als sich selbst Erinnernder bei einer sehr persönlichen menschlichen Tragödie, und in „Einsam“ ist er der verständnisvolle Zuhörer einer ehemaligen Mandantin, deren seelische und körperliche Narben wieder schmerzen. Larissa Leipolt (Elisa Schlott), mittlerweile zweifache Mutter, ist zufällig am Haus ihrer Eltern vorbeigefahren. In diesem unglückseligen Mehrfamilienhaus bekam sie als 15-Jährige ein Kind und stand wegen dessen mutmaßlicher Tötung vor Gericht. „Ich wusste nicht, dass ich schwanger bin“, sagte sie damals. Und als das Baby kam, habe sie immer nur gedacht: „Es darf nicht in mir sein.“ Ein schwieriger Fall – gerichtsmedizinisch, psychologisch, juristisch. Die Frage nach dem Vater macht die Sache nicht einfacher. Und wie ist das asoziale Milieu zu bewerten? In „Der Freund“, dem letzten der vier Episoden, gedenkt Kronberg seinem alten, guten Freund Richard (Oliver Masucci). „Alles schien ihm leicht zu fallen, und jeder war gern mit ihm zusammen“, sagt der Anwalt über die gemeinsamen Kindertage im Internat. Nach Jahren nimmt der Anwalt wieder Kontakt mit seinem ehemaligen Busenfreund auf. Der Sohn aus bestem Hause lebt mittlerweile in einem Mittelklassehotel, ist ein Wrack, schwankt zwischen Delirium und Depressionen. Erst zwei Jahre später erzählt Richard seinem Freund, wie es nach den glücklichen New Yorker Zeiten mit seiner Frau Sheryl (Verena Altenberger) zu dem Absturz kam. Alles begann mit dem Kinderwunsch des Paares. „Es gibt keine Schuld in solchen Fällen“, urteilt der Freund und Anwalt. Mag sein. Doch der Freund bestraft sich selbst.
Präzises filmisches Erzählen. Schule der Wahrnehmung. „Täter“ als Sympathiefiguren
Auch wenn die Charaktere diesmal nicht ganz so tief ausgelotet werden und „das Erschrecken über sich selbst“ (obwohl dies Ferdinand von Schirach in der Schlussfolge im Kommentar selbst formuliert) eher zurückgenommen wurde und dadurch nicht ganz so herausfordernde Porträts und kreatürliche Menschen-Darstellungen wie in der zweiten Staffel entstanden – so schließen die neuen Episoden von „Schuld“ dramaturgisch und filmästhetisch (Regie führte diesmal Nils Willbrandt) nahtlos an die beiden vorhergehenden Staffeln an. Diese Anthologie über das juristische Beurteilen menschlicher (Straf-)Taten gehört nach wie vor zum Besten, was das deutsche Serien-Fernsehen in den letzten Jahren hervorgebracht hat. Die Konzentration auf den Fall und die Motive der vermeintlich kriminell Handelnden, der Verzicht auf ablenkende Nebenplots, die Gleichzeitigkeit von Distanz schaffenden narrativen Strategien (es wird etwas erzählt, was bereits passiert ist) und emotionaler Unmittelbarkeit, vermittelt durch die seelisch angeschlagenen Hauptfiguren, das präzise Spiel mit Blicken, die eindringlichen Solo-Szenen, die hochkarätige Besetzung bis in die kleinsten Rollen, die Gleichwertigkeit von „Inhalt“ und „Form“, machen die Reihe zu einem Musterbeispiel für präzises filmisches Erzählen und für den Rezipienten zu einer Schule der Wahrnehmung. Dabei kann auch wichtig sein, was nicht gezeigt wird: So bleibt einem beispielsweise der Blick auf die Totgeburt erspart; stattdessen sieht man nur die Mutter. Die Kamera macht den Zuschauer quasi zum Augenzeugen der Situation, die im Prozess verhandelt wird – und so kann sich dieser selbst ein Urteil bilden. Bemerkenswert ist auch die grundsätzliche Perspektive, die mehr denn je die der Angeklagten ist, der „Täter“, der schuldig Unschuldigen, der unschuldig Schuldigen. Empathie legt die Narration dem Zuschauer nahe. Kronberg tritt dabei weniger als Vermittler auf, der die Episodenhauptfiguren (moralisch) bewertet. Dem Anwalt ist nichts Menschliches fremd, er ist seinen Mandanten zugewandt, er will sie verstehen. Die Emotionen hingegen bringen Meyerbeck, Leipolt & Co selbst ein, und deren Geschichten machen die vier zu Figuren, denen man einfach mit Sympathie begegnen muss.
Ein Hoch auf die 45 Minuten: kompaktes Erzählen; die Konzentration des Zuschauers
Werden Innovationen überstrapaziert, droht der Bruch mit dem Herkömmlichen selbst irgendwann zur Konvention zu werden. Die Serie „Schuld“ lebt von unerwarteten Wendungen. Diesbezügliches Highlight ist in dieser Staffel die erste Episode mit dem kleinen respektlos behandelten Angestellten, auf den so manche (köstliche) Überraschung wartet. Auch die Folge mit dem anderen kleinen Mann dürfte für manch Wow-Effekte beim Zuschauer sorgen. Die Handlungsverläufe der anderen Geschichten sind erwartbarer, aber deshalb nicht weniger packend. Jeder Fall, jede Erzählung von „Schuld“ ist also anders anders. Die Geschichten bestimmen die Dramaturgie, nicht der Wille, originell sein zu wollen. Und als Zuschauer ist man ständig gespannt, wie sich die Handlung entwickeln wird. Da die Autoren Annika Tepelmann, André Georgi, Niels Holle und Jan Ehlert jeden narrativen Ballast abgeworfen haben, da sie geradlinig und konzentriert erzählen, kann man diesen 45-Minütern problemlos folgen – und man tut es gern. Viele 90-Minüter halten indes die konzentrierte Dichte nicht durch, entsprechend schweift man als Zuschauer ab, sieht über einige Nebenplots und hört über manche Dialogwechsel hinweg. Dabei müssen Langfilme nicht unbedingt komplexer sein, sie sind allerdings für den Zuschauer häufig „anstrengender“ – auch, weil sie ausgedacht und damit in der Regel konstruierter sind. Die Filmplots von Schirachs Erzählungen sind zwar letztlich auch „komponierte“ Geschichten, aber an ihnen hat unverkennbar die Wirklichkeit mitgeschrieben. Und so kommt denn auch am Ende der letzten Episode der letzten Staffel der Schriftsteller selbst ins Bild und spricht zum Zuschauer: Ferdinand von Schirach ist die jahrelange Arbeit als Strafverteidiger offenbar zu viel geworden, zu schwer die Last, diese ständige Konfrontation mit dem Tod und „die Leere, die er in einem hinterlässt“.