Schönefeld Boulevard

Jendrossek, Sylke Enders, Neuenfels. Schauen, ein bisschen mitdenken, staunen

Foto: RBB / credo film / Rorarius
Foto Rainer Tittelbach

Es tut sich nicht viel in Berlin Schönefeld. Alle warten. Ausgerechnet die spätpubertierende Heldin in Sylke Enders „Schönefeld Boulevard“ versucht, bisher für sie Unmögliches zu wagen. Der Filmemacherin gelingt ein etwas anderes Coming-of-age-Drama; sie umschifft dabei mit einer starken Hauptfigur und der sehr präsenten Julia Jendrossek geschickt die Klischees von Themenfilm & Milieustudie – und auch mit der Metaphorik hält sie sich bald zurück. Der Film bezaubert nach kurzer Gewöhnungszeit durch seine unfertige Heldin, durch die gewollt unfertige Geschichte und eine offene, dem Alltag abgelauschte Dramaturgie.

Spätpubertierender „Rosinenbomber“ hebt ab
Es tut sich nicht viel in Berlin Schönefeld. Die Menschen hier hoffen noch immer auf den Flughafen BER und die Arbeitsplätze, die er bringen soll. Derweil stagniert das Leben. Bei Cindy ist das nicht anders. Die Abiturientin kommt nicht recht voran. Weder hat sie eine echte Freundin noch einen Freund – und was sie mit dem sogenannten „Reifezeugnis“ anfangen soll, weiß sie auch noch nicht. Bei allem ist sie die Letzte, beim Laufen im Sportunterricht, bei den Vorbereitungen zum Abi-Ball, beim Sex. Cindy ist keine Schönheit, sie ist kräftig, wuchtig, sie selber sagt, sie sei fett, ihr Vater nennt sie „Rosinenbomber“ und auch ihre übercoolen Klassenkameradinnen machen immer gerne Scherze auf ihre Kosten. Das Mädchen hat sich eine dicke Haut zugelegt. Das braucht sie auch, weil der einzige, mit dem sie des Öfteren abhängt, ihr etwas älterer Nachbar Danny ist, ein destruktiver Zyniker, der über alles und jeden herzieht – vorzugsweise auch über Cindy, die offenbar sein einziger Kontakt zur Außenwelt ist. Ausgerechnet als er – weil ihm nichts Besseres einfällt – nach Afghanistan geht, gibt sich Cindy einen Ruck und macht etwas, was sie selbst und die, die sie kennen, nie von ihr erwartet hätten. Sie bricht ein Stück weit aus ihrem Alltagstrott aus und „verknallt“ sich in einen finnischen Chef-Ingenieur, später dann wird ein koreanischer Computerexperte Objekt ihrer nicht mehr ganz so naiven Kleinmädchen-Schwärmerei.

Schönefeld BoulevardFoto: RBB / credo film / Rorarius
In der Schule wird Cindy (Julia Jendrossek) gern von „den Coolen“ gemobbt. Ganz OBEN: Ein kleines Ventil für den Hass auf sich selbst. Danny (Daniel Sträßer) hält sich an die Abiturientin Cindy (Julia Jendrossek), weil er sie so schön runtermachen kann.

Das Fernweh und das Fremde entdecken
Die Metaphern und die Parallelen zwischen Privatleben und Politik sind deutlich. Anfangs geht nirgends etwas voran. Dann holt sich die Heldin die große weite Welt ins graue, ereignisarme Schönefeld und führt damit nicht nur ihr eigenes tristes Dasein, sondern auch den ewig unfertigen Flughafen einer höheren Bestimmung zu. In Sylke Enders „Schönefeld Boulevard“ ist auch immer wieder von „abheben“ die Rede, im Film fliegen nur Vögel oder auch schon mal Barbiepuppen durch die Lüfte. Flugzeuge starten nicht. Der Mensch ist gefragt. Mehr Metaphorik ist erfreulicherweise nicht. Aber auch zur Schönefelder Milieustudie hebt der Film nicht ab. „Ich bin kein Verfechter von Themenfilmen“, sagte Sylke Enders zum Kinostart des Films. Die Regisseurin ist interessiert an Menschen, an Beziehungen – und da sie genau erzählt, das Psychologische und das Soziale nicht gegeneinander ausspielt, kommen auch die Themen über die Narration in ihre Geschichten. „Schönefeld Boulevard“ ist vom Sujet her ein typisches Coming-of-age-Drama. „Du bist unsere wundervolle Tochter, wird sind stolz auf dich“, sagt zwar auch hier die Mutter der Heldin am Ende, während ihr anfangs solche Nettigkeiten nicht herausrutschen. Dennoch ist der Film weit davon entfernt, dem Zuschauer ein geschöntes Happy End oder der Heldin irgendeine Lebensweisheit ins Poesiealbum zu schreiben. Man hat das Gefühl, diese Cindy kann sich am Ende ein Stück weit mehr lieben.

Schönefeld BoulevardFoto: RBB / credo film / Rorarius
Nicht immer liebevoll. Aber auch die Mutter (Romona Kunze-Libnow) hat es nicht leicht – und sie liebt ihre Cindy (Julia Jendrossek), egal, was Danny behauptet!

„Wird das hier ein weiterer sozialkritischer Adoleszenzporno über Desorientierung, Ausgrenzung und Werteverlust? Zum Glück nicht. Der merkwürdige Charme von „Schönefeld Boulevard“ entwickelt sich allmählich, … an den unvorhersehbarsten Stellen. In einer Holprigkeit, die jedem Bildungsauftragsaugenaufschlag mit angenehm stierem Blick entgegentritt, verlässt Enders ziemlich schnell das ganze Mobbing-Setting der Schule (unvorteilhafte Facebook-Fotos inklusive) und des tristen Heims und widmet sich den Begegnungen in jenem Transitraum, den sich Cindy nach und nach erobert.“ (Cosima Lutz, Die WELT)

Frühlingserwachen und stimmige Psychologie
Der Zuwachs an Selbstliebe und Selbstwertgefühl hat bei der Hauptfigur aber nicht nur etwas mit der Abnabelung vom Elternhaus zu tun hat, sondern er resultiert vor allem auch daraus, dass sich Cindy nicht mehr auf den abwesenden Danny verlässt, sondern sich selbstbestimmt, mit Volldampf und liebenswerter Naivität auf etwas Neues einlässt. Damit ist sie aber auch seine lebens- und menschenverachtenden Auslassungen los. Sie hat nicht mehr ständig seine destruktive Art im Ohr und seinen sie klein machenden vermeintlichen realistischen Blick an ihrer Seite. Endlich ist er nicht mehr da, der, der ihr gesagt hat, dass sie von den Eltern nie gewollt wurde und dass Cindys Eltern ihr aus gutem Grund einen so hässlichen Hund geschenkt hätten: „Der ist so hässlich, dass der völlig von dir ablenkt.“ Als Danny dann – wegen Windpocken – ausgemustert und wieder zurück ist, erkennt er Cindys „neue“ Lebensart, was ihn entsprechend dazu verleitet, sie noch massiver zu entwerten, und sich noch stärker in Selbsthass zu verlieren. Und er, vor Wochen noch der vermeintliche „Leader“ in ihrer Beziehung, spürt, dass er sie mehr braucht als sie ihn, was seinen Selbsthass noch befeuert. „Sobald jemand erwacht und aufblüht, sich von der Rolle, die ihm zugestanden wird, entfernt, entsteht ein Problem“, beschreibt Sylke Enders den Mechanismus, der in dieser Beziehung greift. Die Psychologie also ist stimmig und doch psychologisiert Enders nicht. „Schönefeld Boulevard“ bezaubert nach kurzer Gewöhnungszeit durch seine unfertige Heldin, durch die gewollt unfertige Geschichte und eine dem Alltag abgelauschte Dramaturgie, die keine Subplots, Höhe- und Wendepunkte braucht, keine Ausrufezeichen oder Aufsager. Einfach schauen, bisschen mitdenken, bisschen staunen. (Text-Stand: 8.12.2015)

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Kinofilm

Arte, rbb

Mit Julia Jendrossek, Daniel Sträßer, Romona Kunze-Libnow, Uwe Preuss, Kyra Sophia Kahre, Gro Swantje Kolhof, Jani Volanen, Yung Ngo, Edith Engel

Kamera: Benedict Neuenfels

Szenenbild: Martina Brünner

Schnitt: Katharina Schmidt

Produktionsfirma: Credofilm, Ester.Reglin.Film

Drehbuch: Sylke Enders

Regie: Sylke Enders

EA: 07.01.2016 20:15 Uhr | Arte

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